Aller Anfang ist schwer
Ich schlage die Augen auf. Wo bin ich? Mit erwachendem Bewusstsein stelle ich fest, dass ich eingemümmelt in meinem Schlafsack in einem Zelt liege. Schlagartig bin ich in der Realität angekommen. Ich habe mich gestern für ein Jahr von Allem verabschiedet, was mir wichtig ist! Meine Familie, mein Pferd, mein gesamtes routiniertes Leben. Und jetzt liege ich bei Minusgraden auf hartem, kalten Boden in einem Zelt! Der erste Moment, in dem ich ernsthaft daran zweifle, ob das, was wir machen wirklich auch Das ist, was wir wollen. Aber seit langem auch der erste Moment, in dem ich die Zeit finde überhaupt darüber Nachzudenken.
Doch als ich den Reißverschluss aufziehe und auf die in Raureif gehüllte Landschaft schaue, ändert sich meine Gefühlslage schnell wieder. Dieses Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Dieses einmalige Licht. Die morgendliche Ruhe. Und uns erwarten so viele von diesen tollen Momenten, in denen man einfach nur da steht und staunt, wie schön die Natur ist.
Ich packe meinen Koffer
Das Packen dauert an diesem Morgen beinahe drei Stunden. Die in Eile gepackten Sachen müssen nun erst ihren richtigen Platz finden. Nur ein paar Wenige, der vorbei kommenden Frühsportler entdecken unseren nächtlichen Lagerplatz . Als es endlich los geht, haben Jens und Erik schon Frostbeulen an den Füßen. Dafür schmerzt uns der Hintern, als wir uns wieder in den Sattel schwingen. Schnell kommen wir nicht voran. Immer wieder müssen Kleinigkeiten korrigiert werden. Mal ist es ein Riehmen der Packtaschen, der ein beunruhigendes Geräusch durch das Schleifen in den Speichen verursacht, mal einfach nur die Kleidung, welche wir an und aus ziehen. Denn das Freihändig fahren ist völlig unmöglich!
Es ist Rosenmontag. Für uns bietet sich entlang der gesamten Main-Strecke ein unterhaltsames, kunterbuntes Bild: Von überall her strömen die Jecken, um sich zu Faschingszügen zu versammeln. Doch man macht uns bereitwillig den Weg frei…
Der Main-Radweg
Der Main-Radweg ist ein Paradies für uns Radreise-Amateure. Auf ebener Strecke geht es auf asphaltierten und perfekt ausgeschilderten Wegen immer entlang des Flussbettes. Wenn zwischendurch dann doch einmal ein geschottertes Stück kommt, wird mir deutlichst bewusst, welches Gewicht unsere Räder mitsamt Gepäck auf die Waage bringen. Ich schaue auf die kleine topografische Weltkarte vor mir, blicke auf die imposanten Gebirgszüge, welche uns noch erwarten und beginne innerlich laut zu Lachen. In solchen Momenten scheint unser Ziel China unerreichbar. Doch mein KM-Zähler zählt fleißig weiter: 67km. „Hah! Jetzt sind es nur noch 17.933 km“, denke ich und trete weiter in die Pedale.
Zeit für eine Pause.
Ich habe während unserer Vorbereitungen ein mal gelesen, dass ein Radfahrer bei diesen winterlichen Temperaturen bei kontinuierlichem Fahren bis zu 9000 Kalorien verbraucht. Als wir dann an dem Schild „Grillsteak mit Pommes und Salat für 5,80 €“ vorbei fahren, ist die Überlegung anzuhalten nicht von langer Dauer. Zu uns gesellen sich Timm‘s Mama und Katrin, die im Anschluss Jens und Erik mit nach Hause nehmen.
Da waren‘s nur noch zwei
Jetzt sind wir zu zweit. Bei freundlichem Winter Wetter setzen wir unsere Reise fort Richtung Aschaffenburg. Das Nizza Bayerns empfängt uns mit jeder Menge Sonne und einem beeindruckenden Stadtbild. Während wir uns davor für ein Selbstporträt positionieren, werden wir immer wieder von vorbei schlendernden Spaziergängern – meist Senioren – gefragt, wo wir denn herkommen, ob es bei dem Wetter nicht zu kalt ist zum Fahrrad fahren und wohin die Reise denn geht? „Nach China.“ „Aah… China. – Ääh wie bitte? China?“ Wir geben zu, das Ziel allein klingt schon etwas absurd. Und da wir gerade ein mal knappe hundert Kilometer der Strecke zurückgelegt haben, werden die meisten sich im Nachhinein denken: „Jaja, lass die mal fahren…“.
Schlafplatzsuche
Es ist fünf Uhr. Zeit sich nach einem geeigneten „Zeltplatz“ umzusehen. In der Nähe etwas außerhalb des Ortes am Radweg gelegen, entdecken wir eine Radlertankstelle: „Reperaturen für Radfahrer“ Hier scheint ein Fahrrad-Freundlicher Mensch zu wohnen. Vielleicht dürfen wir auf der Wiese vor dem Haus unser Zelt aufschlagen. Wir dürfen! Fred und seine Frau laden uns sogar noch zum Abendessen ein. Bei leckerem Chili wärmen wir schnell auf und kriechen danach gestärkt und mit vollen Bäuchen in unser Zelt. Wir bedanken uns für die nette Versorgung und empfehlen jedem, der bezüglich seines Fahrrads Hilfe braucht bei der Tankstelle zu halten. Allein wegen der tollen Ketten Kunstwerke rund um das Haus, lohnt es sich mal vorbei zu schauen!
Die weiteren Nächte
Die Nacht von Dienstag auf Mittwoch ist für mich nicht wirklich entspannend. Wir kampieren unterhalb einer Landstraße. Darunter eine regionale Bahnlinie. Darunter unser Zelt neben dem Main-Radweg. Und rechts von uns der Main, mit stündlichem Frachtschiffverkehr. Das Alles ist in Anbetracht dessen, dass wir vor Müdigkeit ziemlich fest und schnell schlafen absolut zu verkraften. Als mich dann aber ein Motorroller, welcher in der Dunkelheit auf dem Radweg unmittelbar an unserem Zelt vorbei fährt, aus den Träumen holt, bin ich hellwach. Und schon wenige Minuten später. Wieder das Geräusch des Rollers. Diesmal fährt er in die andere Richtung. Eine jugendliche, alkoholisiert klingende Stimme gröhlt: „Haaallo! Haaaaalllo!“ Na toll. Ich habe nicht direkt Angst, bin aber dennoch beunruhigt, dass die Jugendlichen sich eine Mutprobe ausdenken: „Wer traut sich im Dunkeln zu dem unheimlichen Zelt am Main?“ Ab jetzt höre ich jedes Geräusch: Die heraneilende Bahn. Einen dicken Ast, der gegen das Ufer kracht. Stimmen, die auf der anderen Seite des Ufers diskutieren. Da! Da ist es doch wieder. Der Motoroller. Ganz in der Ferne. Soll ich Timm wecken? „Schatz?“ Das Geräusch wird lauter. „TIMM!“ Timm schießt zu Tode erschrocken hoch! „Was ist denn los?“ Doch das Geräusch ist nicht mehr da. Nachdem wir einige Momente wach liegen, schlafe auch ich endlich wieder ein.
Die Fahrt nach Rothenburg
In Wertheim müssen wir uns entscheiden, ob wir dem Main weiter folgen oder den romantischen Tauber-Radweg wählen. Wir entscheiden uns für die romantische Route. Doch ich verfluche diese Entscheidung recht schnell wieder. Der Weg ist zwar asphaltiert, schlängelt sich aber nicht so wie sein Kollege vom Main brav am Ufer entlang, sondern folgt der Tauber in einem ständigen Hoch und Runter. Das erste Mal, dass meine Beine wirklich brennen und ich mir selbst bei diesen winterlichen Temperaturen denke, wie toll es wäre sich in das kühlende Flussbett zu legen. Doch wie war das gleich? Man wächst mit seinen Herausforderungen! Irgendwann gewöhnen wir uns an die Berg und Tal Fahrt und sehen es als willkommenes Training, für Alles was noch kommt. Wir genießen die herrliche Landschaft entlang des Flusses und fühlen uns um Jahrhunderte zurückversetzt. Alte Bauerndörfer, rustikale Scheunen, Holzbrücken und vermooste Mäuerchen entlang des Weges. Wenn wir durch ein Dorf fahren, zieht ab und zu eine Oma die bestickte Gardine zur Seite um uns und die beladenen Räder zu beobachten.
Nach fast siebzig Kilometern an diesem Tag folgt nun der krönende Abschluss! Und das in jeder Hinsicht! Sportlich – denn man muss hier noch einmal erwähnen, dass wir nahezu untrainiert sind – wie auch visuell. Als wir um die letzte Kurve biegen, erblicken wir hoch über uns unser heutiges Tagesziel: Die Stadt Rothenburg ob der Tauber (ich wusste gleich, dass dieses „ob der Tauber“ für meine Muskeln nichts Gutes heißt!) Hinter einer beeindruckenden Stadtmauer drängen sich mittelalterliche Häuser und Türme. Wir halten an und lassen dieses Bild auf uns wirken und sammeln Kräfte für den kommenden Anstieg. Ich wünsche mir, wir könnten mit Pferden durch das mächtige Eingangstor reiten, aber mit letzter Energie schieben wir schließlich auch unsere Räder hindurch. Wenn auch etwas weniger majestätich als zu Pferde. Wie wir schnell feststellen ist Rothenburg in asiatischer Hand! Um uns die Stadt in Ruhe anschauen zu können und uns schon mal an die fernöstliche Kultur zu gewöhnen, beschliessen wir hier zwei Nächte zu bleiben.