Planlos durch Wien
Montag, 12. März 2012
Die Räder lassen wir bei Uli und Bine. Es fühlt sich unheimlich entspannt an, ein mal ohne sie unterwegs zu sein. Man kann in ein Geschäft gehen, ohne ständig nervös zu schauen, ob sie noch da sind. Als wir am Stephansplatz aus der U-Bahn aussteigen, ist es nahezu Pflicht einen kurzen Blick in den zwar schönen aber absolut touristisch vermarkteten Stephansdom zu werfen. Für mich geht durch die knipsenden Touristen, die durch eine metallene Absperrung den laufenden Gottesdienst beobachten, leider jede Atmosphäre verloren. Überall stehen Schilder, die auf Führungen hinweisen und zu Spenden zu Gunsten der Kirche aufrufen. Dazu kann sich jeder selbst seine Meinung bilden. Danach laufen wir im wahrsten Sinne des Wortes planlos durch Wien. Wir gönnen uns ein “Wiener” Schnitzel im Brötchen aus dem Supermarkt und folgen den Pferdekutschen, in der Hoffnung, dass sie uns zu den “Attraktionen” Wiens führen. Timm meckert, dass das ohne Stadtplan keinen Sinn macht. Ich bin irgendwie müde. Das Wetter ist stürmisch und kalt. Plötzlich stehen wir vor der architektonisch beeindruckenden Wiener Hofburg und stellen fest, dass egal welche Tür man öffnet – sei es das Sissi-Zimmer, die Bibliothek oder die Hofreitschule – Geld verlangt wird. Das ist anstrengend und wir wünschen uns Jemanden, der sich in der Stadt auskennt, so dass man eher die Nicht-touristische Seite dieser Stadt kennenlernt. Wir gestehen uns ein, dass wir eigentlich ein bisschen Erholung brauchen, anstatt dieses “touristisches Pflichtprogramm” zu absolvieren, kaufen uns eine leckere Tiefkühlpizza (für uns Luxus, da wir sonst ja keinen Backofen dabei haben) und machen es uns im warmen Zimmer bequem.
Kleiner Abstecher
Mittwoch, 14. März 2012
Unsere erste richtige Grenze. Ein Hauch von Nervosität macht sich breit. Die Zeit bis jetzt, könnte man als eine Art Übungsphase bezeichnen. Alles war noch so vertraut. Die Landschaft, die Menschen, die Sprache. Das wird sich jetzt ändern. Während wir uns noch Gedanken machen, welche Ausweise wir vorzeigen müssen, sind wir schon an dem größtenteils verwahrlosten Grenzgebäude vorbei gefahren und stehen in der Slowakei. Das ging einfach. Kein Zoll. Keine Ausweise. Irgendwie schade. Nahezu unspektakulär. Aber es ist anders. Die Umgebung hat sich verändert. Hauptsächlich ist es wohl die Sprache, die das Unvertraute ausmacht. Man fühlt sich ein wenig verloren und hilflos. Nicht lesbare Aneinanderreihungen von Buchstaben auf den vielen überdimensionalen Plakatwänden, die fernab jeder Ästhetik alle paar Meter entlang der Strasse stehen. “Home is where they understand you” ist der einzige Schriftzug, den ich verstehe. Wie wahr. Peinlich wird uns in diesem Moment bewusst, dass wir noch nicht einmal wissen, was “Guten Tag” auf slowakisch bedeutet. So nicken wir den Leuten einfach freundlich zu. Manche tun es uns gleich. Wir fahren an Bratislava vorbei und der Kontrast zu Österreich wird sofort deutlich. Die Mülltrennung – das Wort ist noch übertrieben – die Müllentsorgung wird hier auf andere Art und Weise gelöst. Ein Bild, an das wir uns ab jetzt wahrscheinlich gewöhnen müssen. Viele Häuser scheinen verlassen und die Natur holt sich diese Orte langsam zurück. Man sieht, wo Geld ist und wo nicht. Wer es hat, fährt ein auffällig großes und am besten besonders lautes Auto. Ein Statussymbol, welchem hier wohl sehr große Bedeutung zugemessen wird. Auf einer Art Fahrradautobahn, die so breit ist wie eine normale Strasse, links und rechts durch durchgängige Leitplanken gesichert, fahren wir kilometerlang geradeaus. Einige mehr auf Geschwindigkeit bedachte Radfahrer in bunten Trikots, zischen an uns vorbei. An einer See ähnlichen Verbreiterung der Donau (Zdrz Hrusov) machen wir kurz Pause und überlegen, ob wir die Nacht hier verbringen sollen. Aber es ist erst vier Uhr. Mit Blick auf die Karte stellen wir fest, dass wir nur zwei Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt sind. Mit dem Fahrrad durch drei Länder an einem Tag klingt irgendwie gut. Und so schnell, wie wir in die Slowakei hineingefahren sind, fahren wir auch wieder heraus.
Frühlingsgefühle
Unsere erste Nacht in Ungarn verbringen wir auf einem verlassenen Campingplatz. Naja, verlassen ist er wahrscheinlich nur solange, bis die Touristenströme Anfang Mai eintreffen. Unsere Bemühungen den Besitzer ausfindig zu machen scheitern. Also schlagen wir unser Zelt einfach so auf. Vielleicht ist das auch besser so. Schließlich kam es für uns sehr überraschend heute schon in Ungarn zu sein, so dass wir keine Möglichkeit hatten ungarische Forint abzuheben. Wir haben also überhaupt kein Geld. Man kennt das als verwöhnter EU-Bürger gar nicht mehr. Geld wechseln. Und das in Ungarn, obwohl es doch auch ein EU-Land ist. Und überhaupt. Ungarn? Ich stelle fest, dass ich eigentlich kein Bild von dem Land habe, in dem wir uns nun befinden. Klar, ich als Pferdenärrin habe sofort einen ungarischen Hirten im Kopf, der auf vier Pferden stehend durch die Puszta galoppiert. Aber wie sind die Menschen? Wie begegnen sie uns? Und wie sieht die ungarische Landschaft aus? Wir lassen uns überraschen…
Der nächste Morgen begrüßt uns freundlich. Ich spähe durch den kleinen Lüftungsschlitz im Zelt. Sonne in Sicht! Der Campingplatzbesitzer, auf dessem Grundstück wir uns ja unerlaubterweise befinden, zum Glück nicht. Ungarn zeigt sich uns von seiner schönsten Seite. Es ist mild, die Sonne scheint und überall liegt der Duft von kleinen Garten-Feuern in der Luft. Die Leute sind auf der Strasse und schneiden Hecken und Bäume. Das Land putzt sich heraus für den Frühling. Das überall hallende Kläffen der Hunde hinter den Gartenzäunen nehmen wir schon bald nicht mehr wahr. Es scheint so, als würde Hund Nummer eins am Dorfeingang alle anderen informieren (vielleicht: “Hey Jungs, Radfahrer in Sicht!”) woraufhin alle in ein gemeinsames Bellen einstimmen. Die Leute schauen neugierig und begegnen uns freundlich bis begeistert. Diesmal haben wir unsere Hausaufgaben gemacht und grüßen auf ungarisch mit “Szia!”. Worauf jedoch oft ein “Hallo” zurückkommt. Entlang des Radweges merkt man den deutschsprachigen Einfluss und Schilder wie “Zimmer frei” findet man haufenweise. Wir heben an der Bank nun endlich ungarische Forint ab und machen somit aus hundert Euro 29.000 HUF. Es kommt einem vor, als wäre man nun reicher. Wir sind erstaunt, wie viele Radfahrer an diesem Wochentag unterwegs sind. Das Wetter ist zwar super, aber müssen die denn nicht arbeiten? Ansonsten wirken die Dörfer eher verlassen. Kein Restaurant oder Geschäft hat offen. Wir fahren eben nicht in der Hauptsaison. Als wir dann jedoch die etwas größere Stadt Györ erreichen, wo wir eigentlich unsere vorräte auffüllen wollen, stehen wir ebenfalls vor verschlossenen Türen. Eine alte Dame kommt mit ihrem Rad, das seine besten Zeiten wohl schon hinter sich gebracht hat, angerollt. “Deutsch? Englisch? – Heute ist Nationalfeiertag. Zu. Geschlossen.” Hatten wir schon erwähnt, dass wir immer Sonntags die größeren Städte erreichen? Dass heute kein Sonntag ist, hatten wir bedacht. In einem kleinen Tante-Emma-Laden (die ungarische Bezeichnung kennen wir leider nicht) bekommen wir alles, was wir brauchen. Es ist ein wahres Einkaufserlebnis. Bis zur Decke ist der kleine Raum mit Allem gefüllt, was das Herz – oder der Magen – begehrt. Und mit Menschen, denn es scheint wohl der einzige Laden zu sein, der heute offen hat. So machen wir uns, mit gefüllten Taschen weiter auf die Reise.
Bábolna
Freitag, 16. März 2012
Es sind fünfzehn Grad! Die Sonne scheint. Wir gönnen uns eine Mittagspause mit leckerem Nutellabrot auf dem Dorfplatz von Bábolna. Direkt hinter uns befindet sich das ungarische Nationalgestüt, wo uns anmutig ein eiserner Shagya-Araber-Hengst empfängt. Den für diese Pferderasse typischen edlen konkav geschwungenen Kopf trägt er hoch und sein Schweif weht im Wind. Als wir durch die hohen Mauern in den Gestütshof treten (dieser Eintritt kostet uns vier Euro), präsentiert sich ein sehr gepflegter Gestütshof. Das Bild wird jedoch schnell getrübt. Die edlen Vollblüter, die man sich eher galoppierend auf grünen Weiden vorstellt, stehen in kleinen dunklen Stallgassen, welche ihnen jeden Glanz und Ausdruck nehmen. Enttäuscht ziehen wir durch die Gänge und begutachten die schönen Tiere hinter eisernen Gitterstäben. Dies ist wahrlich nicht das Bild, welches ich von einem Nationalgestüt im Kopf hatte.
Eine kleine Information für meine Pferdefreunde:
Nach einigen Rückschlägen durch die Kreuzungszucht mit Hengsten spanischen Blutes und Englischen Vollblütern verlangte die Gestütsoberdirektion im Jahre 1836 erneut die konsequente Ausrichtung auf Arabische Pferde. In Folge dessen unternahm der damalige Gestütskommandant Major Freiherr Eduard von Herbert persönlich eine Expedition nach Syrien und erwarb dort von Beduinenstämmen fünf Zuchtstuten und neun Hengste. Einer der Hengste war Shagya, den Freiherr von Herbert dem Stamm der Beni Sakhr sechsjährig abkaufte und der 1978 der Namensgeber der Rasse des Shagya-Arabers wurde. Shagya wurde beschrieben als geäpfelter Honigschimmel und entsprach in jeder Hinsicht dem Zuchtideal Bábolnas für den Shagya-Araber, dass auf großrahmiges Exterieur, einen edlen Typ und große Ausdauerleistung abzielte, da die Rasse als Reit- und Fahrpferde gezüchtet werden sollte.
Der skandinavische Angelverein
Auch hier wieder das gleiche Bild, wie wohl im restlichen Ungarn. Die Campingplätze sind geschlossen. Ich habe nicht sonderlich Lust heute noch weit zu fahren. Wir schleppen uns entlang einer Landstrasse einen Berg hinauf. Ab hier verlassen wir das ungarische Flachland und nehmen eine Strecke durch die Weinberge. Meine Kräfte sind am Ende. Außerdem drückt meine Blase. “So, ich muss jetzt hier mal anhalten!” Ein kleiner Weg geht links ab. Ich laufe ein Stück auf der Suche nach einem geeigneten Ort und entdecke hinter der Kuppe ein kleines Paradies. In der Abendsonne liegt dort unten in einem kleinen Tal inmitten der ungarischen Hügellandschaft ein See. Am Ufer liegen in Reih´und Glied kleine Holzhütten, die eher an Skandinavien erinnern, als an Ungarn. Auf kleinen, hölzernen Stegen sitzen einige Angler. Kinderstimmen sind zu hören. Herrlich. Wir entschliessen uns hinunter zu fahren, um eine Übernachtungserlaubnis zu erhalten. Ein Risiko, denn den Berg, den wir gerade hinunterrollen wieder hinaufzufahren scheint für meine Beine heute Abend ein Ding der Unmöglichkeit.
Timm: Vorbei an “Durchfahrt verboten” Schildern rollen wir in Richtung des größten Hauses, in der Hoffnung dort jemanden zu finden, der für diese Angler-Oase verantwortlich ist. Mit Händen und Füßen frage ich mich von Angler zu Angler bis hin zur Chefin durch. Bisher war keiner dabei, der Englisch spricht. “Do you speak English?” frage ich sie verunsichert. Die Frau zuckt mit den Schultern. Nicht einmal diesen Satz scheint sie verstanden zu haben. Ok. Hier stehen zwei Menschen gegenüber, die sich einfach nicht verstehen. Stille. Meine Unsicherheit hat sich jetzt auch auf die Dame übertragen. Peinlich berührt lässt sich mich trostlos auf der Veranda des Hauses stehen. Hilfesuchend drehe ich mich zu Lorena, die einige Meter hinter mir steht und das Trauerspiel beobachtet hat. Ich sehe ihr an, dass sie zu müde ist noch weiter zu fahren und versuche einen zweiten Anlauf. Diesmal mit Block und Stift. “Zelt” und “Nacht” krizzel ich auf das Papier. Sie redet ungarisch und deutet auf die Wiese hinter uns. Sie lächelt. Die Hoffnung auf eine ruhige Nacht wächst. Dann lässt sie mich erneut stehen und geht fort. Zurück kommt sie mit einem kleinen schüchternen rothaarigen Mädchen. Angestrengt kratzt sie ein paar Wörter Englisch zusammen. “Camping”. “OK”. Erleichtert bedanke ich mich mit einer tiefen Verbeugung und wiederhole die Worte “Köszönöm”, “Köszönöm” und komme mir dabei vor, als wäre ich ein Japaner. Mittlerweile ist es dunkel. Es gibt sogar eine Dusche. Ich frage nach dem Preis und was sie dafür haben möchte. Zwei junge Leute an der “Rezeption” fangen an zu lachen und in meiner Fantasie höre ich sie sagen: “Hahaha, schau mal der Deutsche da, der glaubt das hier ist ein Campingplatz. Hahahaha!” Nach einer heißen Dusche und einer extra Portion Spaghetti mit Rahmspinat legen wir uns ins Zelt am See. Ich höre noch einer Weile den Angler und ihren Hightech-piepsenden-Angeln zu, während ich ins Reich der Träume gleite.
Der nächste Morgen wartet mit einer schönen Überraschung auf uns. Es ist Samstag und die Angler von letzter Nacht werden von neuen Anglern am Morgen abgelöst. Darunter auch eine kleine Familie mit zwei Kindern, die Ihr Anglerglück direkt neben unserem Zelt probieren. Während ich noch darüber nachdenke, wie schön es wäre mehr Kontakt zu den Leuten zu haben, beisst bei der Familie ein dicker “Ponty” (auf deutsch: Karpfen) an. Begeistert zücke ich meine Kamera und frage, ob ich fotografieren darf. Noch besser, ich kann den Fisch sogar halten. Das erste Eis ist gebrochen und die Kinder haben großen Spaß uns ungarisch beizubringen. Die zehnjährige Gabriella hat Deutsch in der Schule und der sechszehnjährige Sándor Englisch. Vereinzelt fehlen den Beiden dann doch die Vokabeln und so müssen Block und Stift wieder herhalten. Zwei Seiten werden mit den unterschiedlichsten Symbolen und Zeichnungen bemalt, bis unsere Köpfe rauchen. Jetzt wissen wir endlich was “Zelt” heisst (sátor). Mit den Worten “Wir sind Freunde”, verabschiedet sich Gabriella von uns und wir radeln frisch gestärkt und motiviert Richtung Berge.