Kapitel 10: Die Flucht vor dem Alltag
UNGARN

Abschalten (Für die Dauer einer 200gr Packung Butterkekse)

Abschalten (Für die Dauer einer 200gr Packung Butterkekse)

Ein Tag wie jeder Andere

Die Flucht vor dem Alltag. So haben wir unsere Reise oft beschrieben. Abschalten von dem Stress, den das alltägliche Leben bietet. Die Seele baumeln lassen. Sich Zeit nehmen. Auf andere Gedanken kommen. In der Planung klang das soweit recht einfach. Man setzt sich auf sein Fahrrad und fährt los. Ein Jahr lang Freizeit. In der Realität muss ich feststellen, sieht das Ganze schon ein wenig anders aus. Denn auch in das Leben eines Fahrradnomaden, schleicht sich irgendwann der Alltag ein. Und unstressig ist dieser auch nicht. Unser Leben wird zur Zeit vor Allem durch drei Faktoren bestimmt: Essen, Schlafen und Vorankommen. Man sitzt denn ganzen Tag auf dem Fahrrad, kann aber auch nichts Anderes nebenher machen. Wir versuchen uns zwar immer wieder im freihändig fahren, doch es klappt bisher nur für wenige Microsekunden. Also hat man die Hände den ganzen Tag am Lenker. Man kann nicht schreiben, man kann nicht Lesen (Ich habe es versucht, aber es holpert einfach zu sehr und wenn ich beim Fahren lese, wird mir immer schlecht). Auch die tägliche Schlafplatzsuche ist eine durchaus anstrengende und nervenaufreibende Angelegenheit, wie ich an einem kurzen Beispiel demonstrieren möchte:


Grundsätzlich fahren wir den ganzen Tag durch tolle Landschaften, perfekt geeignet zum unentdeckten Zelten. Doch wenn sich der Abend nähert, stehen wir inmitten einer Stadt. Wie in Esztergom. Schnell kaufen wir in einem kleinen Laden noch ein bisschen Wasser und Verpflegung ein. Ständig fahren Polizei Wagen vorbei und auch die Leute in dieser Gegend machen nicht den vertrauenswürdigsten Eindruck. Vielleicht liegt es auch einfach an der stetig zunehmenden Dunkelheit. Da erscheint mir das Meiste nicht mehr ganz so geheuer wie im Sonnenlicht. Auf unserer Karte ist ein Zeltplatz eingezeichnet, den wir auch schnell finden, aber vor verschlossenen Toren stehen. Der ungarische Besitzer, welchen wir entschlossen anrufen, um zu fragen, ob wir nicht für eine Nacht unser Zelt aufschlagen dürfen, bleibt stur: ” Ab erstem Mai!” Das Tor ist definitiv zu hoch, um die Fahrräder darüber zu heben. Meine Laune sinkt abrupt auf den Nullpunkt. Ein paar Meter weiter findet sich ein Pub mit angrenzendem Youth Hostel. Ich laufe den Hoteleingang suchend durch den Vorhof und bekomme von einem Mann, der in einer biertrinkenden Gruppe sitzt, auf meine Frage nach dem Eingang gesagt: “Yes. Hotel is everywhere!” Danke für die Auskunft! An der Pubbar steht eine arg geschminkte Ungarin in Pink, mit Fakewimpern und einem überaus tiefen Dekolté. Sie lässt mich eine Weile warten, da sie gerade mit zwei weiteren Bier trinkenden Jungs flirtet, welche mich kritisch von oben bis unten mustern. “Ja Jungs, die High Heels habe ich irgendwie zu Hause vergessen. Das ist mein Fahrrad-Outdoor-Outfit! Ich bin nämlich gerade auf einer Fahrradweltreise”, denke ich und finde es gleichermaßen erstaunlich, was Kleidung doch ausmacht und wie anders Leute einem dadurch begegnen. Gut, man muss zugeben nachdem wir heute mittag unsere Ketten gewechselt haben, sehen unsere Hände aus, als wären wir schon vier Jahre auf Weltreise. Nachdem sie mir dann doch endlich den Zimmerpreis verraten hat, begegne ich auf dem Weg nach draussen wieder der Bier-trinkenden Gruppe: “You stay here tonight?” “Maybe”, sage ich, da ich mich erst mit Timm absprechen muss. Timm also wieder rein, um das Zimmer zu buchen und erhält als Antwort: “No rooms!” Ah ja. Auch etwas wechselhaft die gute Dame. Mein Knie schmerzt und ich weiß nicht mehr, ob ich nun sauer bin, enttäuscht oder einfach müde. Also fahren wir weiter durch die Dunkelheit die Donau entlang. Die lässt erahnen, welch tolle Stadt Esztergom bei Tageslicht sein muss. (Und tatsächlich lesen wir am nächsten Tag, dass Esztergom einer der schönsten und bedeutesten Städte Ungarns ist. Aber bei Nacht sieht eben auch die schönste Stadt irgendwie gespenstisch aus). Es ist Samstag Abend. Überall entlang des Ufers tauchen Menschen auf. Mal ein Angler, mal eine Gruppe Jugendlicher, die sich einzig durch das Glühen ihrer Zigaretten bemerkbar machen. Mal eine schwarze Silhouette einer Person. Hinter uns dröhnt die laute Musik eines Festes in der Stadt. Timm fährt ein ganzes Stück vor mir. Da meine Augen im Dunkeln nicht die besten sind folge ich einfach dem Leuchten seines Rücklichts und übersehe dadurch das ein oder andere Schlagloch. Ist mir in dem Moment aber eigentlich auch egal. Das rote Licht vor mir hält an. “Was hälst du hier von?” Links des Weges ist ein bewaldeter Kiesstrand, rechts eine große Wiese. Dahinter ein paar vertrauenserweckende Häuser. “Ok”, sage ich nach kurzer Überlegung.



Nach einer gruseligen Nacht kurz hinter Esztergom, stellen wir am Morgen fest, dass es eigentlich Nichts zum Gruseln gab.

Nach einer gruseligen Nacht kurz hinter Esztergom, stellen wir am Morgen fest, dass es eigentlich Nichts zum Gruseln gab.

Durch einen minimal kleinen Schlitz meines Schlafsacks blinzel ich nach Draussen. Es wird langsam hell. Sechs Uhr. “Gott sei Dank! Wieder eine Nacht überlebt!” Ok, das klingt wahrscheinlich etwas zu dramatisch. Dennoch bin ich froh morgens aufzuwachen, ohne dass in der Nacht irgendwelche Zwischenfälle eingetreten sind. Noch fällt mir das Campen in freier Natur nicht ganz einfach. Sobald es dunkel wird schleichen sich die verrücktesten Gedanken, wahrscheinlich geprägt durch verschiedenste Horrorfilme (Danke Hollywood!) in meinen Kopf. Ich stelle mir vor, was ist, wenn da plötzlich eine unheimliche Gestalt im Dunkeln steht oder leuchtende Augen durch den Luftschlitz unseres Zeltes spähen… Die Realität ist weitaus harmloser. So sieht der Donaustrand am Morgen im hellen Sonnenlicht nahezu idyllisch aus. Ein Angler sitzt nur in fünzig Meter Entfernung und lässt sich nicht sonderlich durch unsere Anwesenheit stören.



Wenn uns Jemand so sehen würde, wären wir ihm sicher auch unheimlich.

Wenn uns Jemand so sehen würde, wären wir ihm sicher auch unheimlich.

Und so ist es eigentlich immer. Wir versuchen zwar unser Zelt so aufzubauen, dass uns Niemand sieht, aber manchmal ist das einfach nicht möglich. Und wenn dann doch noch ein verspäteter Spaziergänger oder Radfahrer vorbeikommt, sind diese nicht unheimlich, sondern grüßen sogar nett. Im Weitergehen hört man sie oft sagen: “Die sind ja verrückt, um diese Jahreszeit zu Zelten!” Das denke ich mir dann auch. Ich glaube, die Ängste die man hat, kommen wirklich größtenteils aus Grusel-Geschichten und Horrorfilmen, die auf den Grundängsten der Menschen aufbauen. Die Dunkelheit verändert vieles und lässt so manchen Ort viel gruseliger wirken, als er in Wirklichkeit ist. Tatsächlich bietet sie uns Schutz, denn auch wir sind in der Nacht kaum noch zu Entdecken. Und bisher haben wir es noch nicht erlebt, dass nach Einbruch der Dunkelheit abseits der Wege irgend Jemand war. Denn andere Menschen haben schließlich auch Angst im Dunkeln…



Fusswäsche am Morgen

Fusswäsche am Morgen

Dennoch versuchen wir nicht zu sehr aufzufallen. Morgens packen wir recht zügig und inzwischen routiniert unsere Sachen: Taschen zurück ans Fahrrad, Schlafsachen einrollen, Zelt abbauen, Morgenhygiene, los fahren. Sobald die Sonne sich zeigt und der Körper auf Betriebstemperatur kommt, wird gefrühstückt. Dann heißt es wieder Fahren. Zwischendurch wird eingekauft, fotografiert, gefilmt, geschaut, gestaunt, gestritten, gelacht, getankt, gegessen, Schlafplatz gesucht.
Und so rasen die Tage fast schneller vorbei, als uns lieb ist.



Tanken für einen Euro

Tanken für einen Euro

Reisen statt Rasen

Mein Blick wandert von der Strasse vor mir immer wieder in Richtung Kilometerzähler. “Oh man! Erst 24 Km. Und es ist schon wieder fast ein Uhr.” So sind unsere ersten Tage verlaufen. Ständig hatten wir das Gefühl, unter Zeitdruck zu sein. Ein Tag ist im Moment auch nicht besonders lang. Die Sonne geht um halb sieben auf und verschwindet spätestens um sechs Uhr wieder. In der Zwischenzeit müssen wir möglichst viele Kilometer fahren, um Voran zu kommen. Wir müssen einkaufen, da wir nicht den Proviant für zwei Wochen mit uns herum fahren wollen. Und ab spätestens fünf Uhr heißt es Ausschau nach einem geeigneten Schlafplatz halten, um das Zelt noch vor der Dunkelheit aufzubauen und im Hellen zu Kochen. Oft kommt dazu, dass wir eine Menge Zeit damit verbringen, ein Internetcafé zu suchen um Berichte zu schreiben, Fotos zu sichten und unsere Webseite zu aktualisieren. (Wie ihr merkt, haben wir nicht stundenlang Zeit, die Berichte perfekt auf korrekte Rechtschreibung zu überprüfen. Wir bitten deshalb um Verständnis, für den ein oder anderen Rechtschreibfehlre.)

Ich denke, das Wichtigste bei dieser Reise ist nicht, jeden Tag eine neue Kilometerleistung zu erradeln. Es geht nicht darum zu sagen: “Juhu, ich bin in einer neuen Rekordzeit in China angekommen. Land und Leute? Keine Ahnung. Hatte ich keine Zeit für.” Sondern vielmehr, dass es eine tolle Reise war, mit schönen Momenten und Begegnungen. Dass man Kultur gesehen und erlebt hat. Sich Zeit nehmen. Vielleicht fahren wir an einem Tag nur fünf Kilometer, haben dafür aber Jemanden kennengelernt, der uns eine private Stadtführung geboten hat. Waren zu Gast bei einer Familie und haben landestypische Hausfrauenkost gegessen oder lagen einen Tag auf einem Hügel in der Sonne und haben die grandiose Aussicht genossen.



Ungarischer Schmied in Visegrad. Der Sitz der ungarischen Könige im 14. Jhd.

Ungarischer Schmied in Visegrad. Der Sitz der ungarischen Könige im 14. Jhd.

Timm: Begeistert stelle ich fest, dass nicht nur die Kultur, die Menschen und die Landschaft ein Land ausmachen. Der Geruch, die Geräusche und die vielen Kleinigkeiten prägen mein Bild von Ungarn im Moment noch viel mehr. In den kleinen Dörfern mit ihren geschotterten Seitenstraßen. Wo Gehwege noch Trampelpfade sind. Wo Oberleitungen von Haus zu Haus, über ein Wirrwarr aus Kabeln auf dem Kirchplatz zusammenlaufen. Wo die Hunde kläffend ihr Revier verteidigen und die Hühner frei durch den Garten laufen. Da riecht es nach Lagerfeuer und mir läuft jedesmal das Wasser im Mund zusammen. Wenn ich daran denke, ein einfaches Stockbrot – wie wir es als Kinder manchmal gegessen haben – über den brennenden Laubhaufen zu halten. Die Straßen sind beinahe diesig vom Rauch. Die Autos – meist rostige Reliqiuen, denen man das Alter deutlich anhört – holpern mit hochgestapelten Gegenständen auf den Dächern über von Schlaglöchern übersähte Straßen. Und ich denke, jeden Moment zerlegt es das Auto in seine Einzelteile. Auffällig ist auch, dass in den Autos meist drei oder vier Personen sitzen, was irgendwie an ein “Drive By Shooting” aus Harlem erinnert, wenn das vollbeladene Auto mit vier Männern besetzt langsam an einem vorbei rollt, und ihre Köpfe im Rythmus der Straße wippen, wie mit Lowridern zu einem Beat von 2Pac. Aber wahrscheinlich ist es wohl einfach eine Frage der Ökonomie.