Verschiedene Welten
Wir brechen erst um vier Uhr in Budapest auf. Viel zu spät. Eigentlich müssten wir um diese Zeit schon längst auf Schlafplatzsuche sein. Wir fahren an einer nicht enden wollenden stark befahrenen Schnellstrasse entlang und ich ahne, dass wir unser Zelt heute höchstwahrscheinlich im Dunkeln aufbauen werden – falls wir überhaupt jemals aus dieser endlos erscheinenden Stadt heraus kommen. Mein Stresspegel steigt auf die höchste Stufe (Vielleicht lerne ich diese auch erst noch kennen. Im Moment fühlt es sich zumindest so an!) Sirenen ertönen und ein Polizist blockiert uns die Durchfahrt. Eine Kolonne von Motorrädern mit blau leuchtenden Sirenen taucht auf. Etliche schwarze Limousinen fahren an uns vorbei. Darin wichtig schauende Menschen mit Handy am Ohr, welches sie wohl noch wichtiger wirken lassen soll. In einigen Wagen sitzen nervös wirkende, ernst schauende Männer in schwarzen Anzügen mit kleinen Knöpfen im Ohr – wahrscheinlich die Bodyguards. Ich frage mich, wie so ein Leben ist. Wenn man keinen Schritt mehr alleine gehen kann. Ob Angela Merkel wohl noch U-Bahn fährt? Wahrscheinlich nicht. Ein Leben im goldenen Käfig. In diesem Moment fühle ich mich auf meinem bepackten Fahrrad und in den staubigen Klamotten unglaublich frei und habe das Gefühl, als gäbe es für uns keine Grenzen.
Die Dunkelheit von ihrer schönen Seite
Endlich wird es ländlicher. Unser Navigationsgerät zeigt an: Fünf Kilometer Niemandsland. Es wird auch Zeit. Die Sonne hat ihren tiefsten Punkt bereits erreicht und plumpst gerade rot und rund am Horizont herunter. „Da kommen gleich einige Seen!“, sagt Timm und ich male mir schon eine Idylle aus, mit der ich heute nicht mehr gerechnet hätte. Und tatsächlich entpuppt sich das Paradies nur als schlamiger Baggersee, um den viele undefinierbare industrielle Maschinen stehen und laute schrille Geräusche von sich geben. Willkommen in der Realität. Ein Feldweg ist unsere letzte Hoffnung. Leider ist es hier nämlich nicht so, wie in Deutschland, dass die Wälder und Felder von Wegen nur so durchzogen sind. In Ungarn sind solche Wege eine Seltenheit. Und wenn es Einen gibt, führt er entweder zu einem Haus oder wird als Müllhalde benutzt. Dieser scheint eher Letzterem zu dienen. Egal, ich möchte in der Dunkelheit nicht zwischen Lastwagen auf der Landstrasse weiterfahren. Wir kämpfen uns den immer sandiger werdenden Weg entlang, bis wir schließlich neben einem hügeligen Feld stehen – eine Motorcross Piste. Nachdem wir unser Zelt in einem angrenzenden Wäldchen aufgeschlagen haben, erklimmen wir den höchsten Hügel der Strecke, welche in der sternenklaren Nacht wie eine bizarre Mondlandschaft aussieht. So sitzen wir inmitten dieser absurd romantischen Kulisse und essen Kartoffelpampe mit Gemüse. Ein Essen, das sicherlich nicht zu den kulinarischen Highlights der Reise gehört, aber absolut seinen Zweck erfüllt – wir sind satt und schlafen tief und fest bis zum nächsten Morgen.
Es ist klein und piekst
Es ist ein schöner Morgen. Die Ruhe ist unglaublich entspannend und wir genießen das Frühstück auf der zur Picknick-Decke umfunktionierten Zeltplane. Ich schaue mein bepacktes Rad an und denke mir: „So langsam findet alles seinen Platz“. Doch nach genau einhundertundzwölf Metern liegen alle ordentlich gepackten Dinge wieder auf einem wilden Haufen. Mein erster Platten! Ein etwa ein Zentimeter großer kleiner fieser Stachel hat den Weg durch meinen Fahrradmantel gefunden und meinen Schlauch zerstochen. Wir setzen das theoretisch Gelernte in die Tat um und reparieren zum ersten Mal einen platten Reifen. Die Drahtesel werden erneut gesattelt und mit einstündiger Verspätung brechen wir zum zweiten Mal an diesem Tag auf. Raus aus dem vermüllten Feldweg, zurück auf die Strasse. Haben wir schon erwähnt, dass das Sichtfeld in der Dunkelheit sehr eingeschränkt ist? Unseres war gestern so eingeschränkt, dass wir den Badesee, der sich nun direkt vor unserer Nase befindet, anscheinend nicht entdecken konnten. Einladend schimmert das Wasser in der Sonne, riesige Wasserrutschen schlängeln sich in das kühle Nass und vor der bewaldeten Wiese hängt ein großes hölzernes Schild: Camping! Einziger Trost: Der Campingplatz hat noch nicht geöffnet und der Mann mit dem klapprigen Fahrrad am Eingang hätte uns dort bestimmt nicht schlafen lassen! Ganz sicher nicht.
Der Führer
Es sind unsere ersten Meter ohne unseren „Donauführer“, welcher uns seit Passau auf dem Weg begleitet hat und immer genau wusste, wo es langgeht. Ab jetzt heißt es anhand der Strassenkarten den Weg selbst zu finden. Ein kleines Büchlein, welches für den ein oder anderen Lacher sorgte: Kaum sind wir über die Grenze Deutschlands nach Österreich gefahren, fragen wir uns, wie man wohl als Deutscher im Ausland gesehen wird. Ordentlich? Spießig? Fleißig? Bierbauch und Lederhosen? Wird Deutschland immer noch mit “Hitler” assoziiert? So stehen wir einmal da und suchen nach der Abzweigung auf die andere Seite der Donau. Ein Pärchen kommt vorbei und erklärt uns hilfbereit den Weg. „Aber warum wollt ihr denn auf die andere Seite? Hier ist es doch viel schöner!“ Als Timm darauf sagt: „Weil´s der Führer so sagt!“ bruste ich innerlich los, doch die beiden Passanten verziehen keine Miene und erklären in Ruhe weiter. Dieses Klischee behauptet sich zum Glück nicht.
„Man sieht die Sonne langsam untergehen und erschrickt dennoch, wenn es dunkel ist.“
Wir erleben Ungarn in seiner geographisch flachesten Form. Weit und breit ist kein Wald in Sicht. Bei jeder noch so kleinen Baumgruppe ist ein Bauernhaus angesiedelt. Vielleicht auch andersherum. Fazit: Schlecht für uns unentdeckt zu Zelten! Endlich taucht ein kleines Waldstück auf. Allerdings ist es rundherum von einem rostigen Stacheldraht eingefasst. Na toll, wenn hier mal was wächst, wird es direkt eingezäunt! Vielleicht eine Art von Naturschutz? Es entpuppt sich als ehemaliges Militärgelände. Welch romantischer Platz zum Übernachten. In sich zerfallende Ruinen umringt von Dornenbüschen. Die Nadel meiner inneren Gefühlsskala bezüglich der Sicherheit eines Schlafplatzes steigt von Null gleich „Entspanntes Schlafen“ auf fünf gleich „Unruhiger Schlaf mit immer wieder auftretenden Wachphasen“. Aber die Sonne ist bereits verschwunden und Alternativen gibt es keine. Also gut. Zelt aufbauen. Essen kochen. Beziehungsweise übernimmt Timm diese Aufgaben. Ich verfalle – wie er es nennt – in meine typische „Angststarre“, die immer dann auftritt, wenn mir ein Schlafplatz nicht zusagt:
Laut Wikipedia bezeichnet man Angststarre als einen besonderen, durch Gefahren- oder Stresssituationen ausgelösten, Zustand bei Menschen oder Tieren. Das Stresshormon Adrenalin wird ausgeschüttet und erhöht den Herzschlag (konnte ich noch nicht feststellen…), womit die Muskulatur besser mit Sauerstoff versorgt wird, um den Körper auf einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten. Dabei werden eine Reihe nicht benötigter Organe und auch Teile des Gehirns in ihrer Funktion heruntergefahren (Ich antworte nur noch einsilbig auf Fragen. Timm: „Soll ich Nudeln kochen?“ Ich: „Egal“). Erfolgt aber keine Reaktion in Form von Kampf oder Flucht (Bisher erfolgte Diese noch nicht), so kann nach bis zu 15 Sekunden eine Angststarre eintreten, bei der das bedrohte Lebewesen (Ich) weder fliehen noch kämpfen kann. Es erstarrt sprichwörtlich vor Angst. Dabei sinkt der Herzschlag, die Muskeln versteifen sich und die Kontrolle über die Körperfunktionen lässt signifikant nach (Ich liege steif in meinem Schlafsack und lausche den Geräuschen). Die Angststarre wird dabei durch Nervenimpulse ausgelöst und soll in Gefahrensituationen das Überleben sichern (Ich lebe noch! Hat funktioniert!).
Vielleicht ist der Grund für die „Angststarre“ mit folgender Bewegungsunfähigkeit aber auch der übervolle Magen (wir haben zu zweit 500 Gramm Nudeln verputzt). So bleibt mir wohl oder übel nichts Anderes übrig, als meine unangenehme Umgebung zu verdrängen und ins Reich der Träume zu gleiten. Ein lautes mächtiges Bellen direkt neben meinem Kopf holt mich abrupt von dort zurück. Ich überdenke schlagartig die Belastbarkeit der Zeltplane. „WUAFF!“ Dieses Vieh muss drei Meter groß sein. Kurzer Lagebericht: Es ist stockdunkel. Wir haben zwei Uhr Nachts. Befinden uns auf einem alten hässlichen gruseligen Militärgelände und ein riesiger unheimlicher Hund steht direkt vor unserem kleinen Zelt aus Stoff! „WUAFF!“ „WUAFF!“ Nein, es sind zwei! Vielleicht sind es noch mehr? Wer da wohl noch ist? Wir sind umzingelt. „Timm, bist du wach?“
Timm: Plötzlich kläfft es direkt neben dem Zelt. Ich zucke zusammen. Bin sofort hellwach, kann mich vor Angst nicht Bewegen, und verharre so reglos im Schlafsack. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Es ist schrecklich nicht zu sehen, was um einen herum passiert. Jetzt kläfft auch noch ein zweiter Hund. Mal links mal rechts vom Zelt. Wir flüstern leise miteinander: „Glaubst du da Draußen ist noch wer?“ „Weiss nicht“, antworte ich. Die Hunde hören einfach nicht auf zu bellen und klingen mit jedem Mal aggressiver. Ich greife zu Messer und Taschenlampe. Und versuche den Reißverschluss meines Schlafsacks möglichst leise zu öffnen. Dieser klingt aber noch viel lauter als sonst. Die Hunde scheint das aber ohnehin nicht zu stören. Vorsichtig schaue ich durch den Lüftungsschlitz und leuchte mit der Taschenlampe ins Dunkle. Verdammt, ich sehe nur die ersten paar Büsche. Alles dahinter wird von der Dunkelheit verschluckt. Ich robbe durchs Zelt auf die andere Seite. Lorena liegt nach wie vor regungslos im Schlafsack und lauscht. Mein Adrenalinpegel steigt. Das Hundebellen kommt jetzt direkt von Vorne. Mit pochendem Herz öffne ich den Lüftungsschlitz. Lorena flüstert noch: „Nicht, dass der dir ins Gesicht beisst.“ Danke für die Unterstützung! Ich leuchte nach draußen und aus der Finsternis funkeln mir vier angsteinflößende Augen entgegen. Scheisse sind die groß! Ich pfeife – warum auch immer. Und der Hund rennt aus dem Gebüsch direktnauf das Zelt zu. Reflexartig schliesse ich schnell wieder den Reißverschluss. Das Bellen ist verstummt. Moment! Hat der Hund nicht gerade mit dem Schwanz gewackelt? Ich wage erneut einen Blick. Der Hund sitzt vor dem Zelt und kratzt sich hinter den Ohren. So sieht er irgendwie gar nicht mehr so beängstigend aus. Und auch Lorena bewegt sich wieder und späht aus der Zeltöffnung.
Lorena: Aus dem Schwarz der Nacht wird ein grau und wir können die Hunde nun besser erkennen. Der Große hat sich in ein Gebüsch zum Schlafen gelegt und der etwas Kleinere steht Schwanz wedelnt direkt vor unserem Zelt. Ich fange fast an zu Lachen als Timm ihn erst mehrmals mit böser Stimme zu ruft: „Hau ab jetzt!“, welche aber nach einigen Malen eher resigniert klingt „Ach mann, jetzt hau doch endlich ab!“. Wir kommen zu der Erkenntnis: Sie wollen nicht uns fressen, sie wollen nur unser Essen! Erschöpft schlafen wir beide doch noch einmal für eine Stunde ein. Ich träume von den beiden Hunden. Im Traum freunden wir uns an und die Beiden begleiten uns als Wachhunde auf unserer Reise.
Timm: Das wackelnde Zelt lässt mich schlagartig aufschrecken. Ich höre Etwas wegrennen. Was war denn das? Ein Angriffsveruch? Meine Blase drückt, außerdem sollten wir langsam mal aufstehen. Vor dem Zelt sehe ich, den Grund für den „Angriff“: Die Hunde haben sich wohl gerade über die gestrigen Essensreste hergemacht. Aus sicherer Entfernung schleichen sie um unser Zelt. Unsere Teller sind jetzt auf jeden Fall „sauber“!
Völlig übermüdet starten wir um halb sechs in den Tag. Fazit: Jede dunkle Nacht hat ein helles Ende.
Die Nacht danach
Die Nacht mit den Hunden steckt uns immer noch in den Knochen. Erleichtert treffen wir am Abend wieder auf die Donau. Lorena ist immer etwas entspannter, wenn wir unser Zelt direkt neben dem Wasser aufschlagen. Ob es das beruhigende Plätschern der kleinen Wellen an das steinige Ufer ist oder einfach die Gewissheit, dass der „Feind“ sich nur von einer Seite nähern kann. Wirklich tief schlafe ich trotzdem nicht. „Traumatisiert“ vom Vorabend schrecke ich auch diese Nacht wieder panisch auf. Ich habe etwas gehört. Ganz sicher. Durch das trockene Laub des vergangenen Herbstes haben sich Schritte genähert. Aber ich habe keine Lust auf ein ähnlich langes Bangen in Ungewissheit wie in der Nacht zuvor, greife entschlossen zu allen „Waffen“, die ich in der Dunkelheit um mich herum finden kann und ehe ich mich versehe, stehe ich barfüssig und in Boxershorts vor dem Zelt. In der linken Hand eine Art Sirene, in der Rechten das Pfefferspray, auf dem Kopf die Stirnlampe und im Mund das Messer. Nichts zu sehen. Einen Moment verharre ich noch, bis mir unweigerlich klar wird, was für ein absolut dämliches Bild ich in diesem Moment abgebe. Ob die Nervosität in den kommenden Nächten wieder nachlässt?