Orsova
Ein Penny Markt in Orsova. Auf den ersten Blick wirkt dieser sehr vertraut. Doch schon beim Eintreten stelle ich fest, dass ich versuchen muss, meinen deutschen Sinn für Ordnung zu unterdrücken. Überall stehen die riesigen Einkaufswagen in den viel zu engen Gängen kreuz und quer und es herrscht ein wahres Durcheinander. Ich atme einmal tief durch und füge mich in das Chaos ein. Als ich nach einer geschlagenen halben Stunde endlich wieder heraus komme, hat sich über uns eine graue Ansammlung von Wolken gebildet. Bis der erste Tropfen fällt, ist es wohl nur noch eine Frage von Minuten. Dabei wollten wir heute noch ein ganzes Stück weiter, weg von der Donau in Richtung des rumänischen Gebirges – den Karpaten – fahren. Auch wenn es für uns ein “Umweg” ist, wollen wir die Chance die sagenumwogenen Berge zu sehen nicht ungenutzt lassen, wenn wir schon einmal in greifbarer Nähe sind. Die schneebedeckten Gipfel, die wir bereits von der Ferne aus erahnen konnten, haben uns Lust auf Mehr gemacht. Und Timms Traum war es schon lange, mit seinen Brüdern dort zu Wandern. Doch die einzige Strasse, die in Richtung der Karpaten führt, ist auf unserer Karte als Autobahn oder Bundesstrasse eingezeichnet und wir sind uns nicht sicher, ob sie mit unseren Rädern befahrbar ist. Vielleicht sollten wir für heute in Orsova bleiben, um Morgen früher und besser informiert in die Berge aufzubrechen! Doch das kleine Hostel bei dem wir unser Glück versuchen hat geschlossen. Ein älterer Mann bemerkt, dass wir auf der Suche nach einer Unterkunft sind und versucht uns ohne viel Erfolg auf Rumänisch weiter zu helfen. Ein Zweiter kommt hinzu und wir schaffen es zumindest, den Beiden anhand von Zeichensprache und der Landkarte zu erklären, woher wir kommen, was wir vorhaben und dass wir heute Nacht eine Unterkunft suchen. Der kleine, ältere Herr ist völlig aufgelöst und wiederholt fassunglos immer wieder die Wörter “China”, “bicicleta”. So bildet sich schnell eine Traube von Männern um uns, die wild diskutieren, bis uns Einer schließlich ein Telefon entgegen hält. Timm geht dran und sagt überrascht: “Oh, Sie sprechen ja Deutsch!” Anscheinend gibt es im Ort eine Pension, die von einem Deutschen geführt wird und an den wir nun vermittelt wurden. Wer weiß wozu es gut ist. Vielleicht kann er uns weiter helfen, bezüglich der Routenplanung für die Karpaten. Die Unterkunft ist wirklich schön und direkt an der Donau gelegen, doch wirkliche Hilfe erhalten wir nicht. So starten wir am nächsten Morgen genauso schlau wie vorher.
Mit dem Fahrrad durch die Karpaten
Das klingt nach Anstrengung, doch vielleicht können wir unsere Räder an einem sicheren Ort deponieren, um einen Tag zu Fuß die steileren Regionen des Landes zu erkunden. Die Strasse windet sich steil nach oben und wir werfen einen ersten Blick auf Baile Herculane. Wir wollen uns allerdings nicht weiter in der Stadt aufhalten, da sie als sehr touristisch gilt und wir eher auf der Suche nach einsamer Natur sind. Also schnell ein Foto und weiter gehts. Kurz bevor wir den Ortsausgang passieren sehen wir links von uns, auf der anderen Seite des Flusses, eine Person in der Felswand hängen. Ein Kletterer! Da wir beide vom Klettern begeistert sind, wollen wir uns das Ganze natürlich aus der Nähe anschauen. Und vielleicht kennen die sich ja aus, wo man am besten wandern kann. Eine Gruppe junger Leute sitzt dort in Kletterausrüstung und beobachtet uns neugierig als wir angerollt kommen. Auf unsere Frage hin, ob sie sich hier in der Gegend auskennen, fangen sie an zu Grinsen und wir können unser Glück kaum fassen, als uns einer der Jungs erzählt, dass sie für die rumänische Bergwacht arbeiten und sich daher ganz besonders gut in dem Gebiet auskennen. Zufall?
“Wollt ihr auch mal?” Überrascht schauen wir ihn an. Klar wollen wir!!! Und kurz darauf hängen wir in der Wand. Dass wir die Chance haben würden, in den Karpaten zu klettern, hätten wir niemals gedacht! Es ist schon komisch. Gerade ich bin beim Klettern immer sehr vorsichtig und ängstlich. Dennoch fühle ich mich sehr sicher, als ich von dem mir eigentlich völlig fremden Hardy gesichert werde. Endlich werden die Armmuskeln, welche auf der Reise allmählich verkümmern mal wieder benutzt. Allerdings mit dem Ergebnis, dass wir nach nur einer Route schon recht dicke Unterarme haben.
Timm: Ich bin überglücklich, endlich ein mal wieder kalten, kantigen Stein in meinen Händen halten zu können. Mit Hilfe der überschwänglich gastfreundlichen rumänischen Clique, welche mir die Route von unten zurufend erklärt, bin ich schneller oben, als mir lieb ist. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das Klettern auf der Reise so fehlen wird.
Hardy und seine Jungs, klären uns über Baila Herculane auf und zeigen uns ein kleines Becken am Fluss, was mit heißem Quellwasser gespeißt wird, welches direkt aus dem Felsen kommt, den wir gerade beklettern durften. Fantastisch!
Eigentlich wollten wir heute noch ein ganzes Stück weiter fahren, doch wir fühlen uns inmitten der Leute ausgesprochen wohl und so beschließen wir – ungeplanter Weise – doch eine Nacht in Herculane zu verbringen.
Es wird langsam Abend und wir haben noch keinen Schlafplatz. Die Jungs bieten uns an, mich zu einem kleinen Campingplatz in der Stadt zu fahren, um heraus zu finden, ob dieser bereits geöffnet hat. Lorena bleibt mit den Mädels und den Fahrrädern zurück. Wir fahren durch Herculane, vorbei an größtenteils zerfallenen, aber unglaublich majestätisch wirkenden Gebäuden, welche zeigen, was für eine prunkvolle Stadt dies einst gewesen sein muss.
Baile Herculane: Auf einer Länge von vier Kilometern werden 16 Thermalquellen verschiedener mineralischer Zusammensetzung genutzt; es gibt natriumchlorid-, bikarbonat-, und kalzium-haltige sowie brom-, jod- und schwefel-haltige Quellen zwischen 38 und 67 °C. Die Existenz der Siedlung ist seit dem Jahr 153 durch eine römische Inschrift bezeugt. In der Zeit des Römischen Reiches war Herkulesbad ein wichtiger Kurort, der dem griechisch-römischen Gott Herakles gewidmet war. Nach der Vertreibung der Römer sank die Bedeutung des Ortes. Der moderne Kurbetrieb begann mit der Inbesitznahme des Banats von den Türken durch Österreich-Ungarn im Jahr 1718. Damals wurden durch den Feldmarschall Hamilton neue Bäder angelegt. Im Jahr 1811 wurden 944 Kurgäste gezählt, 1830 waren es 1431. Die Kurgebäude errichtete man in österreichischem Barockstil. Im 18. und 19. Jahrhundert besuchten mehrere österreichisch-ungarische Herrscher den Ort, unter anderem Sissi mit ihrem Gemahl Franz Joseph I. Baile Herculane ist heute einer der bedeutendsten Kurorte Rumäniens.
Der Campingplatz
Beim Campingplatz, welcher aus einigen kleinen Bungalows besteht, bekommen die Jungs von der Bergwacht einen Notruf. Mit Blaulicht heizt der Landrover durch die schmalen, holperigen Strassen zurück zu Lorena und den Rädern, um mich dort wieder abzusetzen. Während ich auf der Rückbank hin und her rutsche, tauschen wir noch schnell die Telefonnummern aus und verabreden uns für den Abend auf ein Bier. Den Weg zum Campingplatz finde ich nun alleine. Leider treffen wir trotz langem Warten und lautem Rufen Niemanden an. Wir beschließen nach kurzem Zögern wenigstens schon einmal mit dem Abendessen zu beginnen. Vielleicht taucht die zuständige Person ja doch noch auf! Auf der überdachten Veranda eines Bungalows machen wir es uns auf einer verschlissenen, alten Couch gemütlich, als plötzlich ein stämmiger Mann im Bademantel vor uns auftaucht. In perfektem britischem Englisch, erklärt er uns, dass der Campingplatz Betreiber vorherige Woche verstorben sei, wir aber ohne Probleme hier Zelten können. Entschlossen lädt er uns ein, unser Zelt in der Nähe seines Caravans aufzuschlagen und unser Abendessen in seinem Vorzelt “einzunehmen”. Die Einladung nehmen wir gerne an, da es gerade mächtig anfängt zu Regnen. Seine Frau Mike empfängt uns ebenfalls sehr herzlich und als Highlight bekommen wir noch zwei Becher Rotwein zu unserem Essen serviert.
Abend
Hardy und seine Freundin Nicole haben uns mit rumänischer Pünktlichkeit irgendwann zwischen 21 und 24 Uhr abgeholt. In der kleinen Bar im alten Stadtteil treffen wir die Anderen wieder und noch ein paar weitere Freunde. Unser Vorhaben wird bewundert. Aber auch hier scheinen wir nicht die Ersten zu sein. Vor ein Paar Jahren ist ein Pärchen zu Fuß durch dieses Städtchen gekommen. Sie waren auf dem Weg von Norwegen nach Griechenland. Nach 8000km mussten sie ihr Vorhaben allerdings aus gesundheitlichen Gründen in Herculane abbrechen. Dann geht die Tür auf. Ein Mann kommt herein und Hardy flüstert uns zu: “Das ist der Boss!” Der Boss bergrüßt uns überraschenderweise mit “Guten Abend!” Valentin spricht fließend Deutsch, da seine Großmutter österreischicher Abstammung ist.
Wir haben das Gefühl, dass die Leute hier alle sehr bemüht darum sind, Herculane wieder zu dem zu machen, was es einmal war: Die Perle Rumäniens. Auch wir sind inzwischen begeistert von der kleinen Stadt, die am Rande der Karpaten gelegen der perfekte Ausgangsort für jeden Outdoorbegeisterten ist. Noch dazu eine Vielzahl von heißen, heilenden Quellen. Was will man mehr? Das einzige, was fehlt, ist wohl ein Investor, welcher an der Wiederherstellung der einstmals wunderschönen Gebäude interessiert ist.
Ostersamstag
Um neun Uhr sind wir bei Dan und Mike im Caravan zum Frühstück eingeladen. Die beiden sind äußerst herzlich und Dan ist ein wahrer Geschichtenerzähler. Wir werden schon fast skeptisch bei so viel Gastfreundschaft. Hier muss doch etwas faul sein? Aber das Einzige, was hier faul ist, ist wahrscheinlich tatsächlich nur der Geruch, der überall in der Luft hängt. Kurz darauf steht schon der silberne Geländewagen vor dem Zelt. Valentin hat ein Tag-füllendes Programm für uns zusammen gestellt. Eine Tour mit dem Defender entlang des Cerna Flusses, welcher durch Herculane fließt und in Orsova in die Donau mündet, Besichtigung einer Klamm und des Stausees und anschließend ein heißes Schwefelbad in Herculane. Klingt gut! Das Programm hat auch Dan, Mike und seine zwei Freunde hellhörig gemacht. Spontan entschliessen sie sich, uns mit ihrem Fahrzeug zu begleiten. Wir machen uns auf den Weg in Richtung der Quelle des Flusses. Der Defender zeigt was er kann, denn die Strasse entwickelt sich zum Feldweg mit allerlei Geröllbrocken und Schlaglöchern (oder gibt es das Wort Schlaggraben?). Der Dacia kommt kaum hinterher und wir beschließen schließlich, alle im Defender Platz zu nehmen. So muss für den Rest der Fahrt Timms Schoß herhalten. Ich stelle fest, dass es nur halb so schön ist, mit dem Auto durch die atemberaubende Schlucht zu fahren, wie mit dem Fahrrad. Die Geschwindigkeit ist einfach zu schnell und man hat nicht die Zeit an einem schönen Platz für einen Moment inne zu halten. Dennoch ist es bei strömendem Regen natürlich äußerst angenehm, nicht über Stunden draußen sein zu müssen. Der Boden ist inzwischen so aufgeweicht, dass ein Vorankommen mit dem Fahrrad eine wirkliche Strapaze geworden wäre. Valentin unterhält uns auf der Fahrt immer wieder mit dem ein oder anderen Witz und zeigt, dass die Rumänen es durchaus verstehen, sich selbst gerne mal auf die Schippe zu nehmen:
Rumänischer Witz: “Gott? Warum hast du Ägypten nur Sand gegeben? Grönland nur Eis? Doch Rumänien hast du die Berge gegeben, das Meer, die Donau, Gold und Mineralschätze. Warum?” Darauf antwortet Gott: “Ja, das stimmt! Aber warte bis du siehst, welches Volk ich dem Land dafür gegeben habe!”
Die Osternacht
Den Abend verbringen wir wieder in der Bar. Beinahe vertraut kommt es uns vor, als wir in die uns bereits bekannten Gesichter von gestern schauen. Um kurz nach zwölf ist von draußen ein orientalisch anmutender Gesang zu hören. Wir gehen hinaus auf den Platz und sind umringt von einem Meer aus Lichtern. Es ist die Orthodoxe Osternacht! Ein schönes Erlebniss und ich bin überrascht, wie viele Menschen dem Brauch folgen und dass das kleine Städtchen doch eine Menge Einwohner zu haben scheint. Erst um drei Uhr fallen wir in unsere “Betten”. Es schläft sich extrem entspannt, wenn man weiß, dass man zum Schutz einen Fuchs und einen Bären als Nachbarn hat! Die Erklärung hier zu, folgt allerdings erst im nächsten Bericht!
Wandern am Ostersonntag
Die Nacht war kurz. So brechen wir am Ostersonntag erst gegen ein Uhr in Richtung des auf 1100 Meter hoch gelegenen Gipfels auf. Es ist herrlich mit Nicole und Hardy unterwegs zu sein. Wir stellen fest, dass wir viele gemeinsame Interessen haben und marschieren mal quatschend mal still schweigend immer höher den Berg hinauf. Es kommt uns vor, als würden wir uns schon eine ganze Ewigkeit kennen. Unterhalb liegt die Stadt Herculane, die mit jedem Schritt kleiner wird. Als wir den Gipfel erreichen sind wir umhüllt von einer grauen nebligen Wolkenmasse. Dennoch fühlt es sich toll an, hier oben zu stehen. Nach einem kalorienreichen Picknick brechen wir querfeldein auf der weniger steilen Rückseite des Berges in Richtung “Heimat” auf. Hardy, der schon als kleines Kind mit seinem Vater viel in den Wäldern und Bergen Rumäniens unterwegs war, kennt sich perfekt aus. Im Städtchen Herculane scheint Hardy’s Vater so etwas wie eine lebende Legende zu sein. Mein linkes Knie fängt schon nach wenigen Metern des Abstiegs an höllisch zu Schmerzen und ich frage mich warum drei Orthopäden keine Problematik festgestellt haben. Das kann doch nicht von Nichts kommen. Doch Maulen hilft nicht, denn wir müssen vor der Dunkelheit wieder unten sein. Hardy wird etwas nervös, da wir keine Taschenlampen dabei haben, und er wahrscheinlich aus vielen Rettungsaktionen weiss, wie gefährlich die Dunkelheit in den Bergen sein kann.
Als wir am Abend erschöpft und müde bei Pizza im Restaurant sitzen, sind wir alle sehr still. Es ist jetzt beinahe zwölf Uhr und nach dem achtstündigen Marsch hat keiner von uns noch die Energie für eine angeregte Unterhaltung. Und ich weiß nicht, wie es den Anderen geht aber ich bin auch ein wenig traurig, das dies der letzte Abend ist und wir in der kurzen Zeit zu Freunden geworden sind und es schwer fällt, jetzt schon wieder Abschied zu nehmen. Gerne hätten wir hier noch mehr Zeit verbracht, aber wir sind uns sicher, dass es nicht das letzte Mal ist, dass wir Herculane besucht haben.
Hardy, Nicole, Vali and all the others from Herculane: Thank you for that great time!!!