KAPITEL 19: Wir wollen ans Meer!
RUMÄNIEN




Die unüberwindbare Strasse

Timm: Auf der engen, überfüllten Ringstrasse fahren wir in einem großen Halbkreis von West- nach Ost-Bucarest. Dan hat uns empfohlen, danach den sogenannten “Sunshine” Highway zu benutzen. Eine neu ausgebaute Autobahn, die geradewegs 280 Kilometer von Bucarest zum Schwarzen Meer verläuft. Er verspricht uns eine breite Strasse mit großem Seitenstreifen und Raststätten mit sauberen Toiletten und Duschen. Die letzten dreißig Kilometer um Bucarest haben uns einmal wieder an unsere nervlichen Grenzen geführt. Doch jetzt wird Alles gut! Nur noch die letzte Kurve zur Auffahrt auf den Highway. *ZONK* Das überdimensional große Schild über der Strasse, welches auch mit fortgeschrittenem Grauen Star noch zu erkennen ist, schlägt uns ins Gesicht: “KEINE KUTSCHEN UND FAHRRÄDER!” Lorena und ich bleiben stehen. Was jetzt? Lorena macht Druck und fordert wie immer genervt eine Entscheidung von mir. Ich entscheide: Erst mal Mittagspause! Also kauen wir ganz romantisch auf der Grünfläche der Autobahnauffahrt trockenes Fladenbrot mit Frischkäse und starren kommentarlos vor uns hin. Ich hätte nicht gedacht, dass wir so schnell aus Dan’s behütetem Zuhause wieder in die Realität des Nomaden-Lebens zurückgeworfen werden. Wir suchen nach Alternativen: 15 Km zurück liegt die alte Landstrasse nach Constanta. Oder wir fahren nicht dorthin, sondern direkt nach Bulgarien? Lorena will weder zurück, noch auf die Autobahn. Will auch nicht nach Bulgarien und auch nicht auf der Grünfläche bleiben. Das macht es mir nicht gerade leicht eine Entscheidung zu treffen. Aber der Reiz auf der schnurrgeraden Autobahn mit dem Fahrrad zu fahren ist groß und ich kann Lorena überzeugen, dass dies eine verdammt gute Idee ist.






Lorena: Ich bin genervt und habe keine Lust auf einen Umweg. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, beschließen wir, für einige Kilometer illegaler Weise den einladenden, schnurgeraden Highway zu nutzen. Und wenn die Polizei kommt, stellen wir uns eben auf dumm. Tatsächlich schaue ich aber dennoch ständig in meinen Rückspiegel und warte auf das Blaulicht, welches uns dann aus dem Verkehr zieht. Es ist angenehm zu fahren. Beinahe wie mit dem Auto. Mit für uns enstsprechend rasender Geschwindigkeit (27 km/h!) rasen wir den endlos geraden Highway entlang. Wo ist denn bei diesem Fahrrad jetzt bloß der Tempomat? Nach einiger Zeit wird uns langweilig und die Angst vor dem Strafzettel der Polizei nicht weniger, als wir an einer Raststätte an einem Streifenwagen der Autobahnpolizei vorbeifahren. Glücklicherweise schläft der Fahrer des Wagens und wir beschließen das Glück nicht herauszufordern und auf die parallel verlaufende Landstrasse zu wechseln. Statt eines Strafzettels nutzen wir das Geld lieber für eine warme Dusche…


Timm: Nach insgesamt hundert Kilometern machen wir Schluss und fragen einen Tankwart um Camperlaubnis. Sein Kollege ist Wachmann des gegenübergelegenen geschlossenen Restaurants. Hier dürfen wir die Nacht im Garten verbringen. Auch der nächste Tag verläuft eigentlich ohne große Zwischenfälle und so kommen wir erneut auf hundert Kilometer. In Fetesti stoßen wir wieder auf die Donau, welche sich mittlerweile optisch merklich dem Delta nähert. Die Donau hat sich in zwei große Arme geteilt. Der Grünstreifen dazwischen ist etwa zehn Kilometer breit, und die einzige Strasse über diese Fläche und die beiden Donau-Arme in das auf der anderen Seite liegende Cernavoda ist unser alter Freund die Autobahn. Die Alternative wäre ein Umweg von 150 Km. Also keine wirkliche Option. Wir beschließen, noch am selben Tag über die erste Brücke auf die Insel zu fahren, um dort zu übernachten. Also zurück auf die Autobahn. Direkt vor der Brücke taucht eine Maut-Station auf. Wir können schon erahnen, dass das nicht lustig wird. Langsam rollen wir auf das Bollwerk zu. Ein Beamter hat uns schon entdeckt und kommt aus seinem Häußchen. Er gibt uns zu verstehen, dass wir von seiner Seite aus gerne dort lang fahren können, doch dass die Polizeibeamten, die direkt hinter der Mautstelle schon auf uns warten, wahrscheinlich weniger tolerant sind. Ich steige vom Fahrrad und laufe – vorbei an der Mautstelle – auf zwei Polizisten zu, welche mit verschränkten Armen lässig an der Motorhaube ihres Wagens lehnen und unsere Räder schon von weitem misstrauisch begutachtet haben. Ich lasse meinen ganzen Charme spielen, soweit mein Talent für Charme das zulässt, und bekomme ein zittriges Grinsen hin. Die Polizisten sind unbeeindruckt. Englisch spricht natürlich auch Keiner. Auf der Karte zeige ich, dass wir nach Cernavoda möchten. Sie zeigen auf die Brücke. Ein Hoffnungsschimmer. Doch dann: “Bicicletta, NO!” Äh, wie jetzt? Wir wollen doch ans Schwarze Meer. Nicht ein mal Betteln hilft. Der Polizist zeigt emotionslos auf die Überwachungskamera in seinem Auto. Keine Chance. Ich laufe enttäuscht zurück zu Lorena, welche mit den Rädern noch vor der Mautstation auf mich wartet. 150 Km Umweg… So kurz vor dem Ziel. Du kannst das Meer schon fast riechen und dann Das. Es ist mittlerweile Abend und wir werden es wahrscheinlich vor der Dunkelheit nicht mehr aus der Stadt schaffen. Also beschliessen wir gezwungenermaßen das nächste Hotel aufzusuchen. Noch auf der Autobahn spricht uns eine Frau aus ihrem Garten heraus an. Wir hoffen, dass sie uns bei der Schlafplatzsuche behilflich ist. Doch soweit kommt es nicht. Der Streifenwagen von eben hält neben uns, und die beiden Polizisten fordern uns mit Nachdruck auf die Autobahn endlich zu verlassen. Und so fahren wir mit Polizeischutz davon… Vielen Dank Herr Polizei!






In einem sehr ärmlichen Stadtteil werden wir von einer Kutsche mit fünf “Zigeunerkindern” überholt. Die Kutsche besteht aus vier Autoreifen und ein paar Brettern. Das Pferd ist abgemagert, das Fell stumpf, struppig und verklebt von Dreck. Sie sind sehr freundlich zu uns, doch es fällt schwer nach so vielen Horrorgeschichten über diese Bevölkerungsgruppe, Ihnen unvoreingenommen zu begenen. Wir fragen nach einem Hotel. Sie sind erfreut über unsere Offenheit und deuten uns an, uns dorthin zu führen. Als wir in Kollone (Kutsche, Fahrrad, Fahrrad) durch den Vorort rollen, bekommen wir von allen Seiten irgendwelche Zurufe. Die meisten Leute schauen böse und viele schütteln mit dem Kopf. Wir sind verunsichert, wissen nicht wie wir die Situation einschätzen sollen. Die Kinder sind sehr freundllich, wollen neugierig unsere Namen wissen und weisen uns letztendlich den richtigen Weg zum Hotel. Ich gehe hinein, um nach dem Preis zu fragen. Lorena bleibt bei den Rädern. Während die Rezeptionistin mir diesen zusammenrechnet und auf ein Blatt Papier krizzelt, schaue ich aus dem Fenster. Ein Polizist steht bei Lorena. Verdammt, bekommen wir jetzt doch noch die Rechnung für unseren Autobahnausflug?


Lorena: Der freundlich lächelnde Polizist kommt auf mich zu und fragt, ob wir heute Nacht in dem Hotel bleiben? “Ja”, antworte ich. Was soll ich auch anderes sagen. Nein, wir schauen erst mal, ob es uns zu teuer ist und wenn ja schlagen wir illegalerweise unser Zelt ein paar Meter weiter in den Büschen auf? Er ist sichtlich beruhigt über meine Antwort und trichtert mir daraufhin ein, dass wir auf keinen Fall weiterfahren sollen. Das Dorf, welches in der Richtung liegt, in die er weist, sei gefährlich und die Leute kriminell. Darauf verabschiedet er sich und fährt davon. War der jetzt nur da, um uns das zu sagen? Und woher weiß er, dass wir hier sind? Vielleicht sollten wir heute Nacht dann wirklich hier bleiben. Es blitzt. Ein Zeichen? Naja, auf jeden Fall verbringen wir die Nacht nach wohltuender Dusche in einem richtigen Bett.


In einem ruhigen Moment auf der rumänischen Autobahn.

In einem ruhigen Moment auf der rumänischen Autobahn.

Am nächsten Morgen versuchen wir erneut unser Glück, auf die andere Seite der Donau zu gelangen. Unser Plan: Wir fahren mit dem Zug. Als wir am Bahnhof eintreffen, der sich unmittelbar neben der Mautstelle von gestern befindet, rollt gerade ein Zug in Richtung Constanta los. Wir freuen uns, dass hier also tatsächlich Züge in die gewollte Richtung fahren. Als wir allerdings herausfinden, dass dieser Zug der Letzte vor vier Uhr am Nachmittag war – es ist gerade 10 Uhr – verschlechtert sich unsere Stimmung schnell wieder. Ich fahre nicht aussen herum! Punkt! Habt ihr schon mal versucht mit zwei voll bepackten Rädern per Anhalter zu fahren? Wir probieren es aus. Und schaffen es tatsächlich den ein oder anderen Sprinter bzw. Pick-Up zum Anhalten zu bewegen. Als wir dann aber auf unsere Räder zeigen, ernten wir immer wieder Kopfschütteln. Ein Taxifahrer wittert seine Chance und macht uns das Angebot uns für 100 Lei (umgerechnet ca. 20 Euro) zu fahren. Doch uns ist unser Geld zu schade. Das muss doch auch anders gehen. Aber niemand nimmt uns mit. Ich warte schon halb verzweifelt bei den Rädern, während Timm direkt an der Strasse weiter sein Glück versucht.


Timm: Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Wagen der Autobahnpolizei oder sowas in der Art. Sie schauen uns von Weitem zu, wie wir verzweifelt versuchen per Anhalter auf die andere Seite zu kommen. Nach circa einer Stunde erfolglosem Warten, kommen sie zu uns herübergefahren. Ich befürchte schon, dass wir wieder einen Autobahn-Platzverweis bekommen. Doch die beiden Herren in dem Auto bieten sich an, uns mit Blaulicht auf die andere Seite zu begleiten. Großartig! Dann deutet er mir allerdings an, dass es etwas kostet. Ich frage Wieviel. Er fragt, was ich bereit bin zu zahlen. Ich sage: “40 Lei?” Er sagt: “Einverstanden.” Also fahren wir wieder einmal unter Polizeischutz auf der Autobahn. Diesmal in die richtige Richtung. Über die erste Brücke. Jetzt nur noch 10 Kilometer über die Insel und über die zweite Brücke, dann haben wir es geschafft. Aber unserem Sicherheitsdienst scheint die Lust vergangen zu sein. Sie halten an und fordern ihr Geld ein. Na super. Voll abgezockt. Wir fahren alleine weiter. Was uns wohl hinter der zweiten Brücke erwartet? Wieder eine Mautstation? Wieder eine Polizeitstreife, die uns aus dem Verkehr zieht? Wir versuchen unsere schlechte Laune zu besänftigen, indem wir uns einreden, dass ein Zugticket bestimmt genauso teuer gewesen wäre… Ja klar!


Auf der zweiten Brücke verabschieden wir uns noch ein letztes Mal von der Donau, da wir diese nun bis zum Ende unserer Reise wohl nicht mehr wiedersehen werden! Als wir dann gerade von der Autobahn abfahren wollen, überholen uns hupend die beiden “Polizisten” von eben. Wir sollen ihnen in eine schottrige Straße folgen. Eine Abkürzung? Nochmal Abzocken? Am liebsten würde ich sie ignorieren… Aber irgendwie fahre ich trotzdem hinter ihnen her. Als der Weg nach einer Kurve wieder auf die Straße führt, welche von der Autobahn abzweigt sehen wir den Grund. Eine Polizeisperre, welche alle von der Autobahn kommenden Autos kontrolliert. Glück gehabt. Dann waren die 40 Lei doch noch für etwas gut!


Tschüss Donau, du warst ein toller Begleiter!

Tschüss Donau, du warst ein toller Begleiter!

 

Steht ein Pferd auf der Strasse...

Steht ein Pferd auf der Strasse...

Wie weit ist es noch bis zum Schwarzen Meer?

Jetzt ist es nicht mehr weit. Wir haben die unpassierbare Autobahn überquert! Gemütlich kochen wir uns ein Süppchen zur Mittagspause und machen es uns in der Sonne bequem. Es ist ein Uhr. Nur noch 40 km bis Constanta. Das ist entspannt zu fahren. Doch kaum haben wir uns wieder in Bewegung gesetzt, ruft Timm von hinten: “Stopp!” Ein Platten. Ach man! Gerade lief es so gut und wir liegen prima in der Zeit. Und dann auch noch am Hinterrad. Also Kette runter, Reifen raus, Platten flicken. Eine streunende Hündin kommt vorbei und schaut mit hungrigem Blick auf den Keks, den ich mir gerade in den Mund schiebe, während Timm am Rad werkelt. Ich halte mich bei dieser Arbeit bewusst zurück, da der Mann meint es besser zu können. So ist der Reifen relativ schnell geflickt. Alle Taschen zurück ans Rad und weiter. Nach nur 200 Metern hält Timm erneut an. Ich frage mich, was nun wieder los ist. Er hält einen rostigen Nagel in der Hand. “Das ist jetzt nicht dein Ernst? Noch ein Platten?!” Mir ist es unbegreiflich, wie man innerhalb weniger Meter zwei Mal direkt hintereinander einen Platten haben kann! (Die letzten 3.000 Kilometer ging es doch auch ohne!) Aber wahrscheinlich ist Timm darüber auch nicht sehr glücklich. Wir reparieren wortlos auch den zweiten Platten. Nun wird die Zeit knapp. Wir fahren so schnell wie möglich in Richtung unseres Zielortes. Es wird immer dunkler. Das Meer ist noch nicht einmal in Sicht. Um uns herum befinden sich Vorstadtsiedlungen von Constanta und Industriegebiete. Aus dem Dunkeln springt plötzlich eine Meute Hunde und kläfft uns gefährlich an. Wir schreien die Viecher an, um sie uns vom Leib zu halten. Ein Mann mit einem Besen kommt hinzu und verscheucht sie. Ich bin nervlich und körperlich erschöpft. Die Strasse ist sehr dunkel und wenig beleuchtet, der Verkehr immer noch sehr stark und am Horizont blitzt es immer wieder heftig. Als wir endlich die Stadt erreichen, nehmen wir das erstbeste Hotel, was wir finden können. Eine gute Gelegenheit, die Taschen mal wieder zu säubern. Doch stattdessen futtern wir noch ein Stück Brot und beschließen einfach Nichts zu tun und einen entspannten Rest-Abend vor dem Fernseher zu verbringen. Gute Nacht!


Ausruhen im Hotel in Constanta (Dusche, Bett, Erholung und Frühstück für 23 Euro)

Ausruhen im Hotel in Constanta (Dusche, Bett, Erholung und Frühstück für 23 Euro)

 

Erst am nächsten Morgen und bei Sonnenschein werfen wir nach 2737 mit dem Rad gefahrenen Kilometern am 21. April 2012 einen ersten Blick auf das Schwarze Meer.

Erst am nächsten Morgen und bei Sonnenschein werfen wir nach 2737 mit dem Rad gefahrenen Kilometern am 21. April 2012 einen ersten Blick auf das Schwarze Meer.

 

Zwei Tage Pause auf einem Campingplatz kurz vor der bulgarischen Grenze. Da wir die einzigen Gäste sind, nutzen wir den Platz aus...

Zwei Tage Pause auf einem Campingplatz kurz vor der bulgarischen Grenze. Da wir die einzigen Gäste sind, nutzen wir den Platz aus...

 

Strandtag ohne Baden. Das Wasser ist leider noch zu kalt!

Strandtag ohne Baden. Das Wasser ist leider noch zu kalt!

Die wilden Hunde Rumäniens

Es kursieren die verrücktesten Geschichten über die Hunde Rumäniens. Wir bekommen sogar erzählt, dass Rudel wild lebender Hunde über Menschen herfallen. So wurden wir schon vor unserer Reise immer wieder vor ihnen gewarnt. Besonders auf Radfahrer hätten sie es abgesehen. Und tatsächlich sorgen sie regelmäßig für den nötigen Adrenalin-Kick beim Fahrradfahren. Urplötzlich springen sie manchmal aus einer Hecke heraus auf uns zu und rennen kläffend hinter uns her. Wir arbeiten an verschiedenen Methoden zur Hundeabwehr. Eine, die sich besonders gut bewährt hat, ist das abrupte Stehenbleiben mit gleichzeitig lautem Schreien. Meist stellt sich heraus, dass die Hunde dann mehr Angst vor uns haben, als wir vor ihnen. Obwohl ich Hunde liebe, entwickelt sich bei mir teilweise eine richtige Abneigung gegen die Vierbeiner, die so verwahrlost sind, dass sie manchmal richtig unheimlich aussehen, wenn sie Zähne fletschend vor einem stehen.


Sie lauern und warten auf Fahrradfahrer.

Sie lauern und warten auf Fahrradfahrer.