Die erste sportliche Herausforderung
Wir wussten, dass die Türkei auf uns mit vielen Bergen wartet. Darauf haben wir uns mental eingestellt. Unsere erste sportliche Herausforderung erhalten wir jedoch schon vor der türkischen Grenze. Der Grenzübergang liegt auf etwa 700 Metern. Doch natürlich führt die Strasse vorher noch einmal hinunter zu einem Flussbett, so dass die kleine “Bergtour” praktisch ab einer Höhe von Null beginnt. So arbeiten wir uns bei brennender Sonne die schmale, kurvige Strasse hinauf. Der gesamte Tourismus-Grenz-Verkehr scheint diese Strasse zu nutzen. In den engen Serpentinen begegnen uns die ersten Autos mit türkischem Kennzeichen und Reisebusse hupen uns aufmunternd zu, was uns sehr motiviert nicht schon am nächsten schattigen Plätzchen unser Zelt aufzuschlagen. Meine Beine zittern schon vor Erschöpfung, als da plötzlich dieses Schild vor uns auftaucht, auf dem die erlösenden Worte stehen: “Türkische Grenze 3 Km”.
Die Gang
Die ersten Einladungen zum Teetrinken, die uns oft vom Strassenrand zugeworfen werden, habe ich höflich abgelehnt, bis Lorena sich genervt beschwert, dass sie aber gerne mal einen Tee trinken würde. (Anmerkung Lorena: Lieber Timm, es wäre schön, wenn ich einmal etwas netter in deinen Erzählungen wegkommen würde!) Kurz darauf kommt auch schon die nächste Einladung. Diesmal überraschenderweise auf Deutsch. Der Typ scheint mir suspekt, aber ich habe Lorenas Gejammer (Entschuldigung Lorena!) noch in meinen Ohren und so nehme ich die Einladung an. Wir setzen uns mit Turgat an einen Tisch vor einem Friseursalon. Seine Kumpels sitzen im Halbkreis um uns herum. Sie stellen neugierig Fragen. Turgat übersetzt auf Deutsch. Er hat früher einmal am Frankfurter Hauptbahnhof T-Shirts bedruckt, bis er Ende der 90er wegen krimineller Machenschaften ausgewiesen wurde. Jetzt lebt Turgat wieder in seinem Heimatdorf, ist Nachtwache bei einer türkischen Tankstellenkette, frisch verheiratet und hat einen Esel, wie er uns stolz erzählt. Wir fühlen uns in der geselligen Männerunde gut aufgehoben. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite sitzen die alten Herren des Dorfes. Turgats Cousin führt den Friseursalon hinter uns. Als wir erzählen, dass wir schon länger keine Dusche mehr hatten, bieten sie uns eine Haarwäsche an. Kurz darauf sitzen wir im Salon und waschen uns die Haare. Danke Turgat!
Reisebekanntschaft
Die letzten Tage ist uns immer wieder ein alter Mercedes-Bus aufgrund seines französischen Kennzeichens aufgefallen. Weltreisende? Gerade als ein grollendes Gewitter über uns schwebt (wir befinden uns zu diesem Zeitpunkt am höchsten Punkt in einem Umkreis von zehn Kilometer), fährt der Bus wieder an uns vorbei und hält diesmal passenderweise an. Während der Regen hinunter prasselt, sitzen wir bei den beiden freundlichen Franzosen im Fahrzeug und tauschen uns aus.
Tausche Auto gegen Fahrrad!
Timm: Bei 34 Grad schleichen wir die relativ schwach befahrene Strasse bergauf und bergab Richtung Istanbul, als ein Auto neben uns hält. Suat, so ist sein Name, steigt aus seinem Fahrzeug. In seinen Händen hält er zwei Äpfel aus dem eigenen Garten. Wir erfahren, dass er Landschaftsgärtner ist. Und müsste er nicht die nächsten Tage beruflich in den arabischen Raum fliegen, würde er uns gerne zu sich nach Istanbul einladen. Er ist ein “Sportsman” und sichtlich an unseren Fahrrädern und dem Anhänger interessiert. Ich biete ihm spaßeshalber an, einmal Probe zu fahren und erwarte eigentlich eine Absage. Aber Suat ist ein “Sportsman”. Und so will er nicht nur Probe fahren. Er will sogar gleich einige Kilometer das Fahren mit dem bepackten Rad testen. Einverstanden. Ich setzte mich dafür in sein Auto und fahre hinter Lorena und ihm her. Es ist schön, mal wieder etwas mehr PS unter dem Hintern zu haben. Weniger schön ist es allerdings Suat dabei zuzuschauen, wie er sich den Berg hochquält. Sein Fahrstil erinnert mich dabei an den ersten Tag unserer Reise. Ich befürchte, dass er jeden Moment vom Fahrrad fällt, aber Suat ist nicht nur irgendein “Sportsman”, er ist türkischer “Sportsman”! Der gibt so schnell nicht auf. Und anmerken lässt er sich natürlich auch nichts. Das nasse Hemd und die Schweißtropfen auf seiner Stirn verraten ihn aber mehr als deutlich. Auch Lorena darf einmal hinter das Steuer. So fahren wir bis in das nächste Dorf, wo uns Suat auf Cay und türkischen Kaffee einlädt. Wir sitzen dort beinahe zwei Stunden und unterhalten uns. Suat verspricht uns, uns bei der Unterkunft-Suche in Istanbul behilflich zu sein…
Kurz nachdem wir am nächsten Morgen aufbrechen, begegnen uns wieder einmal zwei Radler. Die Beiden kommen aus Deutschland und fahren von Istanbul zurück in die Heimat. “Bis Istanbul geht es nur Berg hoch und Berg runter! Und es sind noch etwa 90 Kilometer!” Das sind nicht gerade die besten Aussichten, da wir geplant haben noch heute in der Stadt anzukommen. Über Istanbul kursieren einige Geschichten über den alptraumhaften Verkehr. Es gibt sogar eine Webseite, die beschreibt “how to get to Istanbul without getting killed!”. Da wir heute vor Einbruch der Dunkelheit wohl kaum noch 90 km schaffen werden – das Thermometer zeigt 34 Grad – entschliessen wir uns, trotz der Warnungen über den Großstadtverkehr, die kürzere Route (60 km) geradewegs in die Stadt hinein zu nehmen.
Die Einfahrt nach Istanbul
Istanbul rückt näher. Natur verwandelt sich in Beton. Häuser wohin das Auge reicht. Und es sind noch immer 30 Kilometer bis in die Innenstadt zu fahren! Was sich nicht ändert, ist das stetige Auf und Ab. Ein Junge mit Fahrrad hält neben uns und fragt auf türkisch so etwas wie: “Wie kommt ihr auf die Idee bei den Temperaturen mit all dem Gepäck Fahrrad zu fahren?” Doch circa 25 Kilometer vor dem Stadtzentrum haben wir den letzten Anstieg bezwungen. Ab jetzt können wir die Räder einfach rollen lassen. Die Strassen sind voll. So voll, dass wir schneller sind, als die Autos. Zwischen Bussen, Taxen, LKW und Passanten schlängeln wir uns in Richtung Bosporus. Und wieder spielt die Musik von Tetris in meinem Kopf. Man muss aufpassen, dass man “seine Lücke” zwischen den ganzen Fahrzeugen nicht verpasst. Die Strasse ist zwar brechend voll, doch die Fahrer scheinen an dieses Chaos gewöhnt zu sein. So stört es sie nicht sonderlich, das sich zwei bepackte Radfahrer dicht neben ihren Aussenspiegeln vorbeidrängeln. Sie warnen uns nett mit einem Hupen, wenn sie von hinten zum Überholen ansetzen.
Hotel Güven in Fatih
Suat hat uns ein Hotel herausgesucht, welches er als günstigste Übernachtungsmöglichkeit in Istanbul betitelt. Anscheinend hat er über einen Freund, der in der Tourismusbranche arbeitet, noch einen Sonderpreis ausgehandelt. Es liegt in Fatih, einem Stadtteil Istanbuls, der sehr muslimisch geprägt ist. Die Menschen begutachten uns einmal wieder neugierig, als wir vor dem schmalen Hotelgebäude anhalten.
Umzug
Allerdings sind Frauen in dem Hotel eher eine Seltenheit. (Wir fragen uns, ob überhaupt schon einmal eine Frau die Schwelle übertreten hat…). So gibt es nur Toiletten und Duschen für Männer. An sich habe ich damit kein Problem, doch die Männer schauen mich so an, als hätten SIE eines damit. So hält Timm immer Ausschau, ob die “Luft frei ist”, wenn ich auf Toilette muss. Eine etwas anstrengende Prozedur. Das kleine Zimmer ist zwar absolut funktionell, aber da wir eine größere Umpack- und Reinigungsaktion des Equipments vorhaben, beschließen wir doch noch einmal umzuziehen…
VISA-Jagd
Istanbul ist für uns ein erstes großes Etappenziel! Nicht nur, weil es die Stadt ist, welche Europa und Asien verbindet und uns sozusagen auf die andere Seite befördert, sondern auch, weil sich hier entscheidet, ob wir die für uns so wichtigen VISA erhalten! Ein ganz großes Dankeschön gilt hier Line und Thomas, die mit ihrem Tandem vor zwei Wochen ebenfalls Istanbul passiert haben und in etwa die gleiche Route radeln wie wir. Sie haben uns den Weg geebnet und gewaltig vorgearbeitet. Auf ihrer Webseite finden sich alle Infos zur VISA-Beschaffung in Istanbul: Silktandem.com. Danke euch Beiden!!! Dennoch bleibt es für uns spannend. Die Konsulate befinden sich verteilt in ganz Istanbul. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Nachdem wir am Montag morgen schon auf dem kirgisischen Konsulat waren, erreichen wir eine halbe Stunde nach Öffnungzeit das usbekische Konsulat. Wir haben die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben, dass wir unseren Antrag noch abgeben können. Doch der nette Konsul drückt beide Augen zu, bittet uns allerdings, gegen 14 Uhr noch einmal mit fertig ausgefülltem Antragsformular, welches wir uns in der Stadt ausdrucken lassen sollen, zurückzukommen. (Zum Glück sind wir nicht in Deutschland.) In einem etwas suspekten Internetcafe lassen wir unsere Anträge ausdrucken und ausfüllen. Am nächsten Tag steht Kasachstan auf dem Programm. Dort fragt uns der junge Konsul erstaunt, ob es jetzt ein neuer Trend wäre mit dem Fahrrad durch die Welt zu reisen, da gerade eine Woche vorher schon mal ein Pärchen bei ihm war! Bevor wir gehen, fragt er vorsichtig, ob er uns noch eine Frage stellen dürfe: “To be honest, your ass must hurt, doesn’t it?”