Geländegängigkeit
Die ist in Georgien wirklich gefragt, denn die Strassen sind – wenn man nicht gerade der stark befahrenen Hauptroute folgt – meistens schottrige Huppelpisten. Eine ständige Schicht aus Staub und Sonnencreme klebt an unserem Körper. Dennoch mögen wir die “Feldwege”, denn die Landschaft ist traumhaft, es ist ruhig und es rasen keine Möchtegern-Formel-1-Fahrer mit zweihundert Sachen an uns vorbei. (Wobei die Geschwindigkeit mancher Fahrzeuge bei dieser Strassenlage immer noch beachtlich ist!)
Kleiner Umweg
Auch wenn mein Körper energisch aufschreit: “Lass uns die Hauptstrasse fahren!”, entgegnen mir mein Kopf und Timm etwas Anderes. Statt des direkten Weges durch das georgische Tal, welches sich flach bleibend zwischen dem kleinen und großen Kaukasus nach Tbilisi zieht, möchten sie einen kleinen Schlenker durch den bergigen Süden einlegen. Das bedeutet in diesem Fall: Es geht in 2454 Metern über den Tabatskuri-Pass! Aber um Timm gerecht zu werden, gebe ich leidig nach. Ich habe meine Pferde bekommen, jetzt bekommt Timm auch seinen Berg. Allerdings schliessen wir einen Deal. Wir werden uns ab Borjomi (Höhe: ca. 700 m) per Anhalter zumindest bis zu dem populären Skiort Bakuriani mitnehmen lassen, so dass wir uns ab dort “nur noch” die letzten 800 Höhenmeter selbst erarbeiten müssen.
Doch die Strasse ist im Sommer wie ausgestorben. Kaum ein Auto wählt den Weg durch das gigantische Tal, welches sich zwischen zwei steilen Felswänden langsam in die Höhe windet. Die klapprigen, kleinen Autos, die uns passieren, sind nun wirklich nicht dafür ausgelegt zwei bepackte Räder samt unserer selbst in ihren Kofferraum zu laden.
Es wird spät. Keine Mitfahrgelgenheit. Keine Kraft mehr. Und noch kein Schlafplatz. Doch wir haben ja inzwischen etwas Übung. Kurze Umgebungsanalyse: Die Menschen hier machen einen sozialen, netten Eindruck ohne kriminelle Absichten. Passt. Das Haus rechts von uns liegt idyllisch auf einer großen Wiese. Kinder spielen davor. Passt. Und tatsächlich. Ein wahrer Glückstreffer! Die Familie stammt aus Tbilisi, verbringt hier ihre Ferien und der Sohn spricht gutes Englisch, so dass wir uns endlich wieder einmal etwas weitergehend verständigen können, als nur das inzwischen beinahe etwas mühsam gewordene: “Germany-China-Velo-15.000Km”. Dazu gibt es leckeres Khachapuri und den von Georgi selbstgemachten georgischen Wein. Wir schlummern in dieser Nacht wohlbehütet wie Babys…
Am nächsten Morgen wache ich allerdings mit einem enormen Schwindelgefühl auf. Wein oder Kreislauf? Auf jeden Fall habe ich das permanente Gefühl nach rechts umzufallen. Die Sonne, die an diesem Morgen schon ihre volle Betriebstemperatur erreicht hat, tut ihr Übriges. Prima, wir haben ja nur rund 2000 Höhenmeter vor uns! Die Hoffnung, dass uns Jemand per Anhalter ein paar Meter nach oben befördert, habe ich schon fast aufgegeben, als neben uns ein weißer Kleintransporter hält. “Danke danke danke”, rufe ich dem Mann entgegen und verstumme schnell wieder, als er damit beginnt, ein dickes Seil an seiner Anhänger-Kupplung festzubinden. Äh, will er uns etwa HOCHZIEHEN!? Dass das nicht unbedingt die sicherste Methode ist, einen Berg zu bezwingen, haben wir schon von anderen Radreisenden erfahren (Grüße an Martin und Nadine!). Der Sohn des Mannes sieht wahrscheinlich unseren verdatterten Gesichtern an, dass wir uns das etwas anders vorgestellt haben. Und so landen unsere Räder glücklicherweise dann doch IM Fahrzeug, welches sich daraufhin über etliche Serpentinen bis Bakuriani hinauf kämpft. Als wir einen kleinen geschotterten Weg erreichen, hat die Reise ein Ende. “Bitte aussteigen!” Der Junge zeigt in die Höhe und mein Blick folgt seinem Arm. “Dort oben ist der Pass!” Tatsächlich sehe ich in der Ferne und ziemlich weit oben einige Gipfel in den Himmel ragen. Das Auto fährt davon und wir stehen wie zwei ausgesetzte Hunde vor dem holperigen Feldweg. “Sollen wir wieder umdrehen?”, fragt Timm. Nix da. Zurück gibt es nicht. Die Entscheidung ist gefallen.
Eine andere Welt
Der Pass erscheint uns wie die Pforte in eine andere Welt – zumindest verglichen mit Rest-Georgien. Es weht ein unbändiger, starker Wind, so dass wir von Sommermontur zu unserer “Winter”-Ausrüstung wechseln. Nomaden begegnen uns, die hier im Sommer ihr Vieh hüten. Schaf-, Ziegen- und Kuhherden, die von Reitern zusammengetrieben werden. Hirten winken uns freundlich zu und pfeifen ihre riesigen Wachhunde zurück, die uns drohend anbellen. Frei lebende Pferde stehen stolz in dem satten Grün der endlos erscheinenden Hochebene und begutachten skeptisch und immer aus sicherer Entfernung die zwei – ihnen wohl sehr befremdlich erscheinenden – Fortbewegungsmittel, die des Weges entlangrollen.
Tabatskuri
Als wir das Dorf betreten, können wir uns leibhaftig vorstellen, wie es gewesen sein muss, im Mittelalter zu leben. Dreckige Rinnsale laufen durch die verwinkelten, matschigen Gassen. Hier und da huscht ein Huhn vor unseren Füßen vorbei. Briketts aus Kuhdung zum Heizen stappeln sich neben Sense und Harke. Einzig der Junge mit dem Mobiltelefon in der Hand und dem FC Barcelona-Shirt will nicht ganz in das Bild passen. Wir folgen ihm zum Fußballplatz, wo wir sofort in das Spiel eingebunden werden. Timm mit den großen Jungs. Ich spiele mit den Kleinen und den Mädchen “Abwerfen”. Zur Belohnung dürfen wir unser Zelt unter Belagerung einer Horde von Kindern und den skeptischen Blicken der Großen auf der Grünfläche aufschlagen.
Endspurt nach Tbilisi
Durch unseren kleinen Abstecher haben wir etwas Zeit verloren. Jetzt heißt es Gas geben, um mit unseren VISA-Fristen nicht zu sehr in Verzug zu kommen (außerdem spielt am Donnerstag Deutschland gegen Italien. In Tbilisi sollten wir irgendwo einen Fernseher auftreiben können!). Um Punkt Sieben überfahren wir die Startlinie. In einem ständigen Auf und Ab nähern wir uns unserem Tagesziel. Immer wieder hupendes Anfeuern auf der Strecke. Snickers, kühle Limonade und georgische Power-Kekse halten unseren Energiehaushalt hoch. Ein letzter Berg stellt sich uns noch in den Weg und die Sonne strahlt noch einmal mit voller Energie, bevor sie gleich am Horizont verschwinden wird. Und schließlich taucht nach einer langen, verkehrsreichen Abfahrt Tbilisi vor uns auf! 110 Kilometer! Neue Bestleistung. Der Plan ist eines der ersten Hotels in den Vororten der Stadt zu beziehen, um dem stressigen Großstadtgetummel nach dem ohnehin schon anstrengendem Tag zu entgehen. Aber wieder einmal fahren und fahren und fahren wir. Nicht ein einziges Hotel kreuzt unseren Weg. Erst in der Innenstadt werden wir fündig, doch ein Hilton, Marriot oder Radisson passt nicht in unser Budget. Letzendlich erinnern wir uns an die Empfehlung der radelnden Holländer, und suchen auf der anderen Seite der Stadt ein kleines aber feines Hostel auf: “Bonney’s”.