Bauchschmerzen
Timm: Schon am Abend fangen die Schmerzen an. Eigentlich kein Grund zur Beunruhigung, doch wenn man sich mal wieder abseits der Zivilisation befindet und auch die Infrastruktur aus Schotterpisten besteht, kommt man etwas ins Schwitzen wenn der Körper nachgibt. Könnte es evtl. der Blinddarm sein oder einfach nur Blähungen? Rechts unten ist der Bauch prall und schmerzt. Nach einer eher schlaflosen Nacht machen wir uns auf den Weg. Es bleibt einem nichts Anderes übrig. Unsere Vorräte sind fast aufgebraucht und Hilfe kommt hierher bestimmt nicht. Die Landschaft ist wunderschön, aber die Straße scheint nur auf ein Opfer wie mich gewartet zu haben. Wie bei einem Belastungstest für Fahrräder werden wir stundenlang durchgeschüttelt. Ich hab das Gefühl mein Darm verknotet sich zu einem großen verdrehten Kneul. Es gibt kein Entkommen, entweder Durchschütteln oder im Schotter links und rechts der Straße versinken. Meine Stimmung ist auf dem Tiefpunkt und mein Heimweh wächst. Zum ersten Mal auf der Reise wünsche ich mir zu Hause zu sein, auf der Couch zu liegen, Salzstangen zu knabbern und Cola zu trinken, während man 24/7 TV schaut. Schliesslich gehen uns auch noch die Batterien für das GPS aus, weil das Ladegerät versagt. Ironie des Schicksals. Hätten wir mal die Hauptstraße genommen. Aber nein, wir wollten ja umbedingt durch das kirgisische Hinterland.
Abkürzung
Plötzlich eine ebene Strasse! Und sogar Asphaltiert! Auch in Anbetracht des Meeres aus Schlaglöchern ein kirgisicher Radtraum! Kaum haben wir uns daran gewöhnt, dass unser Tacho seit Tagen endlich mal wieder eine selten gewordene Geschwindigkeit über 10 km/h anzeigt, biegt die Strasse auch schon wieder in die Berge ab! Müde von den ewigen Bergen blicken wir auf die Karte: Die zeigt einen gestrichelten Weg entlang des Flusses an. Da größere Flüsse selten steil Berg auf fließen, entscheiden wir uns, es zu probieren. Doch schon nach wenigen Minuten passieren wir ein kleines Dorf, wo uns ein Mann Arme kreuzend in den Weg springt! Nach einer verwirrenden Hand und Fuss Konversation, in der es darum geht, dass die Strasse für Autos unpassierbar sei, für Pferde und Fahrräder aber sehrwohl, sagt er schliesslich resignierend: “Moshna” – “Man kann!” Na also. Kopfschüttelnd schaut er uns hinterher, als wir unseren Weg fortsetzen. Und auch wir wissen nicht, ob das wirklich die richtige Entscheidung war – doch unser Wille hat gesiegt!
Berge
Timm fährt. Ich schiebe. Vor uns schlängelt sich die Strasse einmal wieder in endlos erscheinenden Serpentinen einen Berg hinauf, so dass wir beschliessen uns diese für den nächsten Tag aufzuheben. Mit einem unruhigen Gefühl im Bauch legen wir uns schlafen und hoffen, dass Timms Bauch sich in dieser Einsamkeit keine Dummheiten ausdenkt! Insgeheim überlege ich mir dennoch einen Notfallplan, falls doch. Noch nicht einmal Autos fahren hier vorbei – abgesehen von einer LKW-Kolonne, die sich völlig unerwartet inklusive Polizeischutz mitten in der Nacht die Steigung hinauf kämpft. Äußerst merkwürdig.
Auch am nächsten Morgen hat sich die Lage nicht geändert: Der Berg ist noch da und auch die Strasse hat sich über Nacht in keinen Tunnel verwandelt. Doch mit der hoffnungsvollen Erwartung, dass nach jedem Anstieg auch ein Abstieg folgen muss (hier im positiven Sinne!), arbeiten wir uns hinauf. Das Ergebnis ist ernüchternd: Berge wohin das Auge reicht! Die Strasse führt keineswegs nur bergab, sondern sucht sich in einem Auf- und Ab einen Weg durch das Hügellabyrinth. Doch ganz nach den Regeln der Physik muss es irgendwann auch wieder Abwärts gehen, wenn man sich auf 3200 Metern und der Zielort auf 1500 Metern befindet. So ist nach einer Weile der letzte Berg besiegt. ASPHALT kommt in Sicht und wir rollen jubelnd die letzten 40 Kilometer nach Kazarman hinab.
Abfahrt nach Kazarman
Ich habe mich des Öfteren darüber gewundert, dass wir nach 200 Tagen auf der Straße nicht einen Unfall erlebt haben, obwohl jeder Zweite fährt, als hätte er sieben Leben. Leider ist dieser “Counter” nun auf “1” geklettert. Zum Glück haben wir den Unfall nicht mit ansehen müssen, dennoch waren wir mit die Ersten am Unfallort. Ein vollbeladener Kleinwagen war von der Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Zwei Männer waren bewusstlos. Eine Frau hatte eine große Wunde am Kopf. Die zwei Kinder hatten auf den ersten Blick keine Verletzungen, aber weinten unaufhörlich beim Anblick ihrer Mutter. Wir holten unseren Erste Hilfe-Koffer, doch mussten schnell feststellen, dass der Inhalt bei solchen Verletzungen lächerlich nutzlos ist. Auf einen Krankenwagen wartet man hier vergebens. Und so wurde kurzerhand ein Auto angehalten, alle verladen und ins örtliche Krankenhaus gebracht.
Erst als wir weiterfuhren, und das Passierte reflektieren konnten, war uns etwas mulmig zu Mute. Es ist kein schönes Gefühl und beunruhigend bei einem solchen Unfall so hilflos zu sein.
Krankenhaus
Timm: Wegen des Unfalls am Vortag wissen wir nun, dass Kazarman sogar ein Krankenhaus hat. Und obwohl es mir bereits etwas besser geht, wollten wir nicht darauf warten, dass dann doch eventuell der Blinddarm bricht, wenn wir wieder auf Tour sind. Der Besuch ist mehr Attraktion, als hilfreich:
Der einem Sowjetbunker ähnelnde Betonkomplex ist dunkel, dreckig und ziemlich alt. Wir müssen uns teilweise ducken, um nicht mit den Köpfen den renovierungsbedürftigen Putz von der Decke abzukratzen. An einem Tisch im Flur werden von drei Krankenschwestern Mullbinden zusammengelegt – ohne Handschuhe. Sterilität kennt man hier nicht, oder zumindest fehlt dafür das Geld.
Mit Hand und Fuss erkläre ich mein Problem – man kann sich vorstellen, wie lustig das aussieht, wenn man Magenprobleme pantomimisch darstellt – dann folge ich einer Krankenschwester durch die dunklen Flure zur Blutanalyse und zum Ultraschall. Wieder einmal bekomme ich den Touristenbonus und werde an den Wartenden vorbeigewunken. Während ich auf der Britsche liege und mein Bauch durchleuchtet wird, reden die Schwestern von “Dollar” und “Som”. In meinem Kopf schrillen die Alarmglocken. Der Touristen Bonus gilt scheinbar auch für die Rechnung. Ich überlege, wie ich das der Versicherung erklären soll und zücke unser Russischbuch, wo ich den Satz suche: “Können sie mir eine Quittung für meine Versicherung ausstellen?”, doch zuerst frage ich wieviel es kostet. Die Antwort lautet: “60 Som” (Umgerechnet einen Euro.) Erleichtert schaue ich zu Lorena, die in diesem Moment den gleichen “Glück gehabt”-Blick drauf hat wie ich. Doch bevor wir gehen, erkundigen wir uns noch nach der Familie vom gestrigen Unfall. Mit einem einfachem “Choroscho” (In Ordnung) vom Chefarzt müssen wir uns zufrieden geben. Zumindest hinsichtlich dessen verlassen wir etwas beruhigter den Bunker.
Jalal-Abad
Wir nehmen den Rat des Arztes ernst und beschließen den Pass nach Jalalabad auszulassen und per Anhalter zu fahren. Da trifft es sich eigentlich ganz gut, dass ein Schweitzer Pärchen dringend noch Mitfahrer sucht. Am Morgen erscheint dann ein alter Jeep, der uns, die Schweitzer und eine Menge Gepäck erstaunlicher Weise unterbringt. Die Fahrt gleicht einer Achterbahnfahrt ohne Anschnallmöglichkeit: Der Jeep kämpft sich schnaufend eine einspurige Pass-Strasse hinauf und hinunter und wir haben einen im wahrsten Sinne atemberaubenden Blick auf den steilen Abhang direkt zu Füßen der Reifen. Manchmal erliegt das Fahrzeug dem Gewicht seiner Ladung und gibt keuchend den Geist auf. Doch mit einem Griff in den Fußraum des Beifahrers startet der Fahrer routiniert die Zündung.
In Jalal-Abad angekommen, baut Timm die wegen der Fahrt in seine Einzelteile zerlegten Räder wieder zusammen, während ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft mache. Der hiesige CBT scheint erneut überteuert und die Unterkunft sieht nicht gerade einladend aus. Schließlich beziehen wir ein geräumiges Zimmer in einem kleinen Kirgisischen Hotel in der Innenstadt für gerade einmal 3 Euro die Nacht. Gegen Abend wird die Unterkunft jedoch zum Stundenhotel, was wir mittlerweile aber eher belustigend finden. Die Kakerlaken mit denen wir jedoch nicht nur für eine Stunde das Zimmer teilen müssen ekeln uns nach wie vor. Diese fliegen dann stündlich im hohen Bogen aus dem Fenster.
Die Stadt ist jung aber konservativ. Wir fühlen uns hier wohl und bleiben gleich 3 Tage zum Auskurieren und Kräfte sammeln für die kommenden Pässe in Richtung China.