Wir setzen über
Deutsche sind immer pünktlich? Wir geben uns alle Mühe den guten Ruf zu zerstören. Wie immer verlassen wir das Hotel auf die letzte Minute, so dass es nun wirklich knapp wird die Fähre nach Yalova zu erreichen. Hinzu kommt, dass wir vor einem Berg aus Gepäck und zwei Fahrrädern stehen, aber unser Anhänger nun fehlt! In Eile und mit etwas Kreativität zurren wir Alles fest und schwingen uns nach einer Pause von zehn Tagen endlich wieder in den Sattel. Zum Glück ist der Hafen nicht weit entfernt und wir schlängeln uns in rasantem Tempo durch den Verkehr. Als wir uns schon fast am Ziel glauben, wartet die nächste Überraschung auf uns: Gepäckkontrolle! Während wir völlig gestresst unsere Räder entladen und die Taschen durch das Röntgengerät befördern, fällt uns das Pärchen vor uns beinahe gar nicht auf. Sie sind ebenfalls damit beschäftig, eine Menge Taschen an ihren Fahrrädern anzubringen. Da wir alle versuchen die Fähre noch rechtzeitig zu erreichen, beschränkt sich das Gespräch auf “Woher kommt ihr?” und “Wohin geht die Reise?” und wir beschließen die weitere Unterhaltung auf die Fähre zu verlegen. So rollen dann schließlich gerade noch rechtzeitig vier bepackte Räder auf das Schiff. Hier andere Reiseradler zu treffen ist nicht aussergewöhnlich, da Istanbul der Knotenpunkt zwischen Europa und Asien ist. Jeder Reisende, dessen Route südlich des Schwarzen Meeres verläuft, kommt wohl oder übel in Istanbul vorbei. Und auch Anna und Wieger aus Holland sind auf dem Weg nach Fernost. Als “Endziel” haben sie sich Neuseeland vorgenommen. Vor lauter Geschnatter vergessen wir beinahe einen letzten Blick auf Istanbul zu werfen, welches sich noch einmal in voller Schönheit präsentiert. Die Hagia Sophia und die Blaue Moschee thronen mächtig über dem bewegten Hafen. Goodbye Europa!
Kaltes Wasser. Heißes Wasser.
Lorena: Da unsere Route für einige Kilometer den selben Verlauf nimmt, beschließen wir zusammen weiter zu fahren. Ich denke uns alle treibt die Neugier, wie wohl die Anderen ihren Reise-Alltag bewerkstelligen. Wieder einmal stelle ich fest, dass es nicht gut ist eine zu lange Pause einzulegen! Mein Körper will nicht so wie ich und mir fällt es schwer mit den flotten Holländern Tempo zu halten. Während unserer Ruhepause in Istanbul war ich etwas erkältet und bin anscheinend noch nicht hundertprozentig davon erholt. Ziemlich schnell bin ich außer Puste. Da kommt es mir ganz gelegen, dass wir gezwungenermaßen einen längeren Stopp in Orthangazi einlegen müssen, da der Himmel mit Blitz und Donner Literweise Wasser über uns ausleert. Durch die Strassen fließen regelrechte Sturzbäche. Nach dem nasskalten Schauer kommt es uns gerade recht, dass sich angeblich in der Nähe des Sees eine heiße Quelle befinden soll!
Timm: Ich bin voller Vorfreude, als wir zu viert von der Fähre rollen. Gespannt auf die kommenden zwei Tage, in denen wir zusammen Zeltwand an Zeltwand schlafen, Essen und Erlebnisse teilen! Zusammen Fahrrad fahren. Niemand hat uns gezeigt, wie man so ein Langzeit-Nomadenleben führt. Wie man den Alltag bewältigt. Wie man improvisiert und wie man repariert. Deshalb haben wir uns schon die ganze Reise darauf gefreut einmal ein paar Tage mit anderen Fahrradreisenden zu verbringen, um Erfahrungen und Tipps auszutauschen. Doch schon nach wenigen Metern stelle ich fest, dass ich nicht bedacht habe, dass jeder Reisende auch seine eigene Art zu Reisen hat. Wieger und Anna legen ein enormes Tempo vor und nach nur wenigen Kilometern und Höhenmetern hat sich ein große Lücke zwischen uns gebildet. Immer wieder müssen sie anhalten, um auf uns zu warten. Und wir sind noch platter als sonst, da wir versuchen mitzuhalten. Dennoch ist es erfrischend zu sehen, wie locker und ungezwungen die beiden Holländer auf jung und alt zugehen. Mit kleinen Stickern ihres Logos können sie die Kinder jedes Dorfes für sich begeistern! Das ist eine super Idee und so werden wir wohl auch in der nächsten größeren Stadt Postkarten drucken gehen!
Leider ist unser Türkisch nicht ausreichend die Wörter auf den Schildern zu entziffern und wir schauen neidisch auf das kleine Gerät, welches Anna aus ihrer Tasche zieht: Ein elektronisches Wörterbuch! Warum sind wir nicht auf die Idee gekommen so etwas mit zu nehmen? Das Wort, welches sie sich auf türkisch für “heiße Quelle” übersetzen lässt, klingt zwar eher chinesisch, aber der alte Herr, den wir fragen, weist uns mit geradeaus, links und rechts Bewegungen einen Weg. Und tatsächlich sprudeln bald darauf heiß dampfende Wasserfälle aus dem Hang entlang der Strasse. Wir folgen einem Schild – auf dem wieder das “Chinesiche Wort” steht – in eine kleine Strasse und stehen kurze Zeit später vor einem kleinen türkisblauen Badesee. Der geschäftstüchtige Türke ist wenig beeindruckt von den vollbepackten Rädern und erklärt uns sogleich, dass das Schwimmen in dem warmen Nass drei Lira pro Person kostet. “Dürfen wir denn dann auch hier Campen?” Er schaut uns nickend an, überlegt kurz: “Evet, evet… Zehn Lira!” Das wir für unseren Schlafplatz Geld bezahlen sollen, passt nicht ganz in unseren Plan vom Baden in einer natürlichen heißen Quelle inmitten türkischer Natur. Da nun vier Leute darüber entscheiden müssen, wie wir weiter vorgehen, dauert es einige Minuten, bis wir uns dann entschließen nach einem anderen Platz zu suchen. Doch prompt als wir gerade wieder aufbrechen wollen, gibt Wiegers kleines Rädchen zum Umlenken der Kette mit einem lauten Knacks den Geist auf! Damit ist die Entscheidung von alleine gefallen. Wir bleiben. Nun muss nur noch über den Preis diskutiert werden. Wieger zeigt, was er in der Türkei gelernt hat und bietet 20 TL für Schwimmen und Campen für uns alle und bleibt so lange mit verschränkten Armen vor dem Mann stehen bis dieser nach einer Weile endlich nachgibt und muffelig sagt “Tamam! Ok!”.
Während Wieger versucht sein Rad zu reparieren, kochen Timm, Anna und ich das Essen. Interessiert kommt ein Mann näher und fragt uns über unser Vorhaben aus. Es stellt sich heraus, dass er aus Aserbaidschan kommt. Leider spricht er nur sehr schlecht Englisch und daher fällt die Unterhaltung eher knapp aus. Er schenkt uns eine Flasche hausgemachten, georgischen Obstbrand. Entgegen aller ärztlichen Ratschläge wollen wir mit vollem Magen eine Runde Schwimme gehen. Es ist inzwischen Dunkel und wir haben das in der kühlen Nacht dampfende Wasser für uns allein.
Glück im Unglück?
Wieger kann sein Fahrrad soweit reparieren, dass er ohne zu Schieben die nächsten 20 Kilometer bis nach Iznik fahren kann. Dort angekommen nehmen wir nun doch gerne Gürsels Hilfe an. (Mit ihm hatten wir uns in Istanbul getroffen. Ihm gehören dort die drei Fahrradläden). Per Telefon fragen wir ihn, ob er einen Fahrradladen in Iznik kennt, der Wieger mit Ersatzteilen aushelfen kann. Nur wenige Minuten später kommt ein Freund von Gürsel mit dem Rad angerollt und startet mit Timm und Wieger eine “Ersatzteil-Such-Aktion” durch ganz Iznik.
Timm: Wir treffen uns mit Ferhat, dem Freund von Gürsel. Während die Mädels in einem kleinen Park an der historischen Stadtmauer zurückbleiben, fahren Wieger und ich mit Ferhat zu verschiedenen “Fahrradhändlern”. Leider kann uns Niemand helfen und so bekommen wir auf der Ersatzteilsuche auch noch eine kleine Stadtführung.
Iznik ist eine wunderschöne historische Kleinstadt! Nach der fünften Werkstatt, die meistens eher auf Motorräder und Mopeds ausgelegt sind, werden wir fündig! Wieger bekommt zwei gebrauchte Derailleur Rädchen und eines als Ersatz! Mal wieder müssen wir nichts dafür bezahlen. Das ist Ehrensache!
Es ist als würde man durch das Paradies fahren. Entlang der Strasse sieht man Obstbäume und Olivenhaine wohin das Auge reicht. Pralle, rote Kirschen verleiten uns immer wieder zum Anhalten. Das Wetter ist nicht ganz so paradisisch. Immer wieder prasselt mal mehr, mal weniger starker Regen herunter. An unseren wasserfesten Klamotten perlt der Regen wunderbar ab. Die Strasse ist mit solch einem Effekt leider nicht ausgerüstet. Ganz im Gegenteil. Sie befindet sich im Bauzustand und der lehmige Boden wird zur Matschpiste. Wir werden das Gefühl nicht los, dass wir kein gutes Omen für die beiden Holländer sind. Die Strasse ist jetzt extrem glitschig, so dass Wieger stürzt. Wir sind glücklich, dass unsere Reifen sich nun endlich beweisen können und wir kaum Probleme haben das Fahrrad durch den Matsch zu steuern. Dennoch küren wir den Lehm, der sich an den Fahrrädern festklebt auf den Namen “Turkish Mud”. Eine widerspenstige, klebrige Masse!
Unmittelbar an dem Punkt, wo sich Morgen unsere Wege trennen werden, schlagen wir auf einer Wiese unser Zelt auf. Wenn man den Müll ausblendet, der hier überall herum liegt, ein wirklich netter Campingplatz. Ach ja. Und nicht zu vergessen die zwei Hunde die aus einem Gebüsch heraus lautstark ihr Revier verteidigen. Wir kochen und essen noch gemeinsam, sind aber an diesem Abend zu müde noch lange zusammen zu sitzen. Wir verabschieden uns am nächsten Morgen, sind gespannt ob sich unsere Wege vielleicht noch einmal kreuzen – denn bekanntlich trifft man sich ja immer zwei Mal im Leben – und gehen nun wieder zu Zweit auf die Reise.