Abreise in Belgrad
Timm: Um kurz vor sieben wache ich auf. In fünf Minuten klingelt der Handywecker. Wir sind nun schon die vierte Nacht bei Rade und haben bereits ein schlechtes Gewissen, weil wir ursprünglich nur zwei Tage bleiben wollten. Doch bevor wir losfahren, versuchen wir noch etwas “Ballast” abzuwerfen. Passenderweise hat Rade eine Kofferwaage. Wir versuchen durch eine aufwendige Umpackaktion das Gepäck so zu verteilen, dass wir eventuell auf den Anhänger verzichten können. Könnte passen. Noch ein kurzes Abschiedsfoto mit Lucky dem Welpen, der uns in der kurzen Zeit genauso wie der alte Rüde Bobbie ans Herz gewachsen ist. Die beiden hüpfen um uns herum, während wir unsere Fahrräder beladen und realisieren im Gegensatz zu uns sicher nicht, dass gleich wahrscheinlich ein Abschied für immer folgt. Auch der schüchterne Bosnier aus Sarajevo, welcher ebenfalls in Rades Haus wohnt und in Belgrad Chemie studiert, schaut uns interessiert zu. Als wir dann in Richtung der Hauptstraße rollen, werfe ich noch einen letzten Blick zurück auf das Haus. Den Seufzer kann ich nur schwer unterdrücken.
Lorena: Ich stelle fest, dass es nicht gut ist, zu lange Zeit an einem Ort zu bleiben. Beinahe heimisch haben wir uns inzwischen in der kleinen Wohnung in dem Vorort von Belgrad gefühlt. Wahrscheinlich, weil sich so etwas wie Routine eingestellt hat. Bekannte Abläufe. Dazu hat auch Lucky beigetragen, der jeden Morgen, sobald die Haustüre aufging, fröhlich in unser Wohnzimmer hüpfte, um uns zu begrüßen. Außerdem habe ich das Gefühl, mein Körper dachte sich während der vier Tage Pause, das tägliche Fahrrad-Fahren hat nun endlich ein Ende. Leider muss ich ihn enttäuschen und ihm mitteilen, dass da noch Einiges vor uns liegt. Somit beschwert er sich mit starken Knie-, Po- und Muskelschmerzen. Aber davon lasse ich mich so schnell nicht unterkriegen. Wir fahren den Donaudamm entlang, der nun endgültig nicht mehr asphaltiert ist. Über groben Kies geht es in Richtung rumänischer Grenze.
Timm: Das Fahren ist angenehm. Durch die Umpackaktion hat Lorena deutlich mehr Gewicht bekommen, was sich an der ein oder anderen Steigung bemerkbar macht. Der Donaudamm hinter Pan?evo schlängelt sich mit grünem Gras bewachsen entlang der kilometerlangen Auen. Wir treffen einige Schaf-, Ziegen- und Kuhherden, die das Dammgras exakt auf die Höhe eines englischen Rasens knabbern.
Lorena: Unterhalb des Dammes am Donauufer präsentiert sich aufgrund der vielen Bastschirme eine dem Ballermann ähnelnde Strandlandschaft. Als wir uns nähern, stellen wir jedoch fest, dass das Wasser nicht wirklich zum Baden einlädt. Undefinierbare Kleinteile schwimmen in der Brühe. Direkt am Eingang ist eine Art Strandbar, die aber, so wie es aussieht, in den nächsten paar Monaten noch geschlossen bleibt. Im Moment wirkt sie nicht besonders einladend und ist vollgestellt mit allerlei Schirmen und Brettern. Für uns ist es perfekt. Ein alter Mann, der gerade vor seiner Fischerhütte am Holz hacken ist, gibt uns auf rumänisch zu verstehen, dass es in Ordnung ist wenn wir dort campen. Zumindest verstehen wir es so. Die eigentliche Konversation sieht nämlich so aus, dass wir ihm mit Handzeichen für “Schlafen” und “Zelt” und dem Wort “Camping” versuchen zu verdeutlichen, was wir möchten und er mit einer weiten Geste nickend um sich herum zeigt, was wir so deuten, als bedeute es: “Ja. Hier könnt ihr überall campen!” Also schlagen wir in der Mitte zweier Holztische unser Zelt auf und genießen unter den Bastschirmen unser Abendessen mit Blick auf eine wunderschöne naturbelassene Donaulandschaft. Ich bin gerade eingeschlafen, als einige Stimmen zu hören sind. Was machen wir eigentlich falsch? Es sind drei Personen. Eine Frau lacht. Das ist schonmal beruhigend. Anscheinend zwei Männer und eine Frau. Wir sind nicht sicher, ob sie unser Zelt entdeckt haben. Musik ertönt. Da wir nicht ruhig schlafen können, ohne zu klären, wer die Menschen sind, entscheidet sich Timm aus dem Zelt zu klettern und nachzusehen. Ich stecke nur meinen Kopf heraus. In der kleinen Hütte, die vorhin noch so verlassen und barikadiert wirkte, brennt nun Licht.
Timm: Ich ziehe mir meine Hose an (Ja, ich habe aus der Nacht mit den Hunden gelernt!) und klettere aus dem Zelt. Was wollen die bloß im April um elf Uhr in einer Gott verlassenen Strandbar? In der Hütte brennen zwei Kerzen. Drei Gestalten haben die Köpfe zusammengesteckt. Ich stelle mich in den Türrahmen und grüße mit “Dober Dan”. Die Frau spricht Englisch. Ich frage, ob sie damit einverstanden sind, wenn wir hier schlafen: “We sleep here! Is this ok?” Habe aber eher das Gefühl, als würde ich sagen: “Wir schlafen hier, könnten sie die Musik etwas leiser drehen?” Am nächsten Morgen kommt die Frau auf uns zu. Sie fragt, ob wir einen Kaffee trinken möchten und erklärt, dass sie hier zusammen mit ihrem “Darling” wohnt. Und die Moral von der Geschicht’: trau unbewohnten Häusern nicht!
Matschiger Donaudamm
Der Regen der letzten Nacht macht sich bemerkbar. Der staubige Weg entlang des Dammes ist aufgeweicht und der Wind peitscht ununterbrochen von der Seite über den Damm. DAuch die Schlaglöcher sind nun gefüllt mit Wasser und so bewegen wir uns im Schneckentempo und Zickzack-fahrend vorwärts. Mehr als 8 Km/h sind heute einfach nicht drin.
Lorena: Mehrmals kommt mein Rad so ins Rutschen, dass ich drohe umzufallen. Ständig dieser verfluchte Seitenwind! Am liebsten möchte ich gar nicht mehr weiter fahren. Aber das hilft mir ja dann auch nicht besonders viel. Weit und breit ist Nichts zu sehen außer Bäume, Wiese und Damm. Ich verfluche den Weg und Timm, der einige hundert Meter vor mir fährt und keine Rücksicht darauf nimmt, ob ich hinterher komme. Sobald wir in die Nähe einer Strasse kommen, werde ich die Beziehung beenden und nach Hause fliegen. Keine Lust mehr! Und schließlich ist dann doch ein Ende in Sicht und schnell habe ich vergessen, warum ich vor einigen Minuten noch so wütend war!
Timm: Lorena und ich reden mal wieder nicht miteinander. (Sie ist sauer, dass ich mich nicht genug um sie kümmer. Und ich verstehe es mal wieder nicht, da ich auf meine Hilfsangebote nur maulige Antworten erhalten hatte.)
Es ist sehr belastend unter ständigem Seiten- und Gegenwind zu fahren. Doch das Schlimmste am Wind ist nicht einmal, dass kraftraubende Fahrrad fahren, sondern das über Stunden ununterbrochene Pfeifen in den Ohren. Natürliche Foltermethode sozusagen. Am Ende der Tortur wartet eine Asphaltstraße und ein Fischerhaus mit Blick auf die an dieser Stelle fischreiche, zwei Kilometer breite Donau. Der Wirt ruft uns überraschender Weise auf Deutsch zu: “Kommt rein, hier könnt ihr euch ausruhen.” Genervt von den Strapazen nehmen wir dankend an und setzen uns auf die windstille, überdachte Terasse in butterweiche, dick gepolsterte Bastsessel. Der Blick ist traumhaft, wir bestellen zwei Bier. Der Wirt Milikovic setzt sich zu uns an den Tisch und meint zu seiner Frau: “So, jetzt will ich mit den jungen Leuten doch mal reden.” Und so erzählt er uns eine Stunde lang von seiner 20-jährigen Arbeit als Gastarbeiter in Wien. Von seiner Pflaumenplantage mit 1000 Stock. Seinem Hotel, welches mittlerweile durch den Sohn geführt wird. Seinem Fischereiclub. Vom deutschen Fleiß und dem serbischen Potential. Und von Lockomotiven, welche früher die Schiffe an einigen Stellen der Donau wegen der starken Strömung Fluss aufwärts ziehen mussten. Wir hören gespannt zu und schlürfen gelegentlich an unserem Jelen Pivo. Die frisch gebackenen mit Marmelade gefüllten Stückchen seiner Frau dürfen wir dann auch noch probieren! Vielen Dank dafür! Die waren großartig!
Eine matschige Angelegenheit
Wir beschließen noch eine Nacht in Serbien zu bleiben. Wieder einmal hat sich die eben noch wunderschöne Landschaft zu einer Camping unfreundlichen Einöde verwandelt. In einem wunderschönen Marillenhain sehen wir unsere letzte Chance für einen geeigneten Schlafplatz. Wir schieben die Räder durch die weiß blühenden Baumreihen und müssen nach nur zehn Metern feststellen, dass dies nicht die beste Idee war. Der Boden, welcher von Weitem wie eine grüne Wiese aussah, ist bei näherer Betrachtung feucht und erdig. Wie ein “Zwei-Komponenten-Kleber” pantscht sich das lehmartige Etwas aus Wasser und Erde zwischen Reifen und Schutzblech. Mein Fahrrad zeigt sich als wahrer Draht-Esel und weigert sich standhaft, sich auch nur ein Stück weiter zu bewegen. Die Reifen blockieren. Nichts geht mehr. Rien ne va plus. Nicht vor und nicht zurück. Also Taschen ab und das Zelt an Ort und Stelle aufstellen. Ich bin mit meiner Geduld am Ende. Wind. Ok. Regen. Ok. Nervige Freundin / nerviger Freund. Ok. Schlafplatzsuche im Dunkeln. Mittlerweile Ok. Aber jetzt auch noch mit zwei Kilogramm extra Gewicht an den Füßen ins Zelt kriechen. Definitiv nicht mehr Ok! Wenigstens kann man auf dem Schlamm Wirbelsäulenfreundlich schlafen.
Am nächsten Morgen zeigt sich erst das Ausmaß unserer Übernachtung im Matsch. Die Räder meines Fahrrads lassen sich noch immer nicht drehen (warum sollten sie auch?) und so wird es eben bis zur Strasse getragen. Nach einer knapp einstündigen Freikratzaktion ist eine Art Rollen endlich wieder möglich. Und so stehen wir schlammig und ungewaschen auf der schnurrgeraden Strasse, als sich sehr zügig ein bepacktes Fahrrad nähert. “Hey, schau mal! Da kommt wieder ein Weltenbummler”. Lorena antwortet ungläubig: “Der ist doch viel zu schnell!” Er ist jedoch eine Sie und tatsächlich auf Weltreise! Das Timing könnte perfekter kaum sein. Ohne Frühstück und Morgenwäsche stehen wir zerzaust am Straßenrand und puhlen mit kleinen Stöckchen wie Primaten den Lehm aus dem Reifenprofil. Und dann steht sie da! Die Schweizerin. Acht Uhr, Wind, die Frisur sitzt. Voller Energie und gut gelaunt. Die Kette blitzt. Sie erzählt uns stolz in ihrem neongelben Radleroutfit von einer perfekt durchorganisierten Tour nach China inklusive einiger Altenativpläne, falls Etwas nicht klappen sollte. Wo hingegen wir noch nicht ein mal sagen können, wohin uns der Weg die nächsten Tage führt. Erkenntnis des Tages (heute passenderweise schon sehr früh): “Lasst euch nicht so gehen, putzt mal wieder eure Räder und macht endlich mal wieder ein paar Kilometer!” Wir haben verstanden, treten in die Pedale und versuchen die neongelbe Erscheinung, die schon lange wieder am Horizont verschwunden ist, einzuholen.
Serbien: Impressionen